Montag, 16. Dezember 2013
Manuskript "Bruno S. - Als ich Mensch wurde, musste ich sterben"
Bruno S.
Als ich Mensch wurde, musste ich sterben
Eine radiophone Dokumentation
von Annett Krause und Matthias Hilke
Redaktion: Walter Filz
SWR2/RBB - 2013











Atmo 01: Akkordeon atmet (läuft im Hintergrund weiter)
Lutz Eisholz 01: Das ist unheimlich. Da sagt er doch zu mir: "Ich hab mal eine Frage. An Euch alle. An Euch alle!“

Bruno S. 01: Wenn ich mal sollte tot sein, tot, was wird dann aus meinen Instrumenten?
Musik 01: Klavierstück "Die Forelle", von Bruno S. gespielt, setzt ein und vermischt sich mit dem „Akkordeonatmen“
Bruno S. 01: Werden die dem Fraße der Wölfe vorgeschmissen oder was wird damit geschehen? Wenn ich mal tot sollte sein. Was wird aus meinen Instrumenten? Aus dem Rappen und aus dem Josef? Was mit meinen Instrumenten wird? Dem Fraße der Wölfe! Ja? Oder wo gehen meine Instrumente hin. Wenn ich mal tot bin? Das kann ja mal vorkommen.
Dass die Dinger zerhackt werden? Datt will ick wissen! Aber ob das Glück bringt, ist ´ne zweete Frage!
Da ist es.
Sie sollen glücklich werden, aber nicht unglücklich. Werdet glücklich, aber nicht unglücklich! Werdet glücklich, aber nicht unglücklich!
Kapielski Ansage: Bruno S. - Als ich Mensch wurde, musste ich sterben. Eine radiophone Dokumentation von Annett Krause und Matthias Hilke
Musik: Klavierstück "Die Forelle" endet
Bruno S. 01: Was wird mit meinen Instrumenten? Mit meinem Rappen und mit meinem Josef. Was wird damit.
Atmo aus
Atmo 02: Wohnungstür wird aufgeschlossen, mehrere Personen betreten eine Wohnung.
Kapielski: So. Da wären wir. Kommt rein!
Klaus Theuerkauf 01 a,b: Ja, ja. Der hat sich ja selber eingeschlossen. Mit vier Schlössern hat der sich ja zugeschlossen.
Sprecherin: Mach doch mal die Vorhänge auf, man sieht ja kaum was!
Kapielski: Also, die waren die letzten 20 Jahre zu und so lassen wir das jetzt auch. Ich mach mal Licht an!

Atmo 03, 04: Neonröhre geht an, Leute gehen umher
Atmo 05 unterlegt die folgenden O-Töne

Kapielski: Es ist noch alles, wie es war. Fast.

Sprecherin: Man, man, man! Was für ´ne Höhle?! Hier hat einer gewohnt?!
Klaus Theuerkauf 02 a,b: Er hat immer darunter gelitten, dass er übereinander stapeln musste, dass er ein Zimmer zu wenig hat. So ein Chaos – bei Boris Lurie sah es auch nicht anders aus.
Matthias Reichelt 01 a,b,c: Er lebte wie so ein Einsiedler in seiner Wohnung. Mit diese ganzen gesammelten Gegenstände wie Zahnarztstuhl, OP-Tisch, dieser Flügel - sein großer Schatz.
Sprecherin: JA! Ordentlich vergraben unter Unmengen von Zeug und Glocken!

Kapielski: Seinen Instrumenten hat er Namen gegeben. Sie waren seine Freunde. Der Rappe, das ist der Flügel, der Josef ist das Klavier.

Matthias Reichelt 02 a,b,c: Dann Lokomotiven, überhaupt Eisenbahnwagons. Hinter dem Klavier dann so eine ganz dünne Matratze mit `ner Decke drauf.

Sprecherin: Tatsächlich! Fast wie ein Versteck.
Klaus Theuerkauf 03: Er hat ja keinen großen Grund gehabt, der Welt zu vertrauen, nach seiner Geschichte da.
Kapielski: Deswegen nannte er sich ja auch Bruno S. Er wollte anonym bleiben.
Matthias Reichelt 03: Er sprach ja immer in der dritten Person von sich.
Kapielski: „Der Bruno“ hat er immer gesagte.
Sprecherin: Ich hab´ ihn ja nur ein Mal gesehen. Hier auf der Kurfürstenstraße, und da sah er ehrlich gesagt aus wie ein Obdachloser!
Kapielski: Er hatte seine Gründe! Komm, setz dich an den Flügel, vielmehr Stühle gibt’s hier sowieso nicht.
Sprecherin: Die Büste da – das ist doch Beethoven! Wow, und ein ganzer Haufen Akkordeons. Sagt man das so?! Akkordeons? Also, das ist schon alles ein bisschen seltsam hier, Leute!
Musik 02: Klavierspiel unterlegt folgende O-Töne
Frank Marcks 01: Immer wenn das Thema auf Bruno kommt, wird dieses Wort normal - was ist das für ein Wort, das braucht man gar nicht.
Lutz Eisholz 02: Und man musste sich ja erst mal an ihn heran tasten und seine ungeheure Sensibilität, die er hatte, bei ihm wecken, um zu kommunizieren.
Jan Ralske 01 a,b,c: Das ist ein Typ, der war wirklich von einer Welt, was eine unglaubliche Tradition und Kultur hatte, die es nicht mehr gibt.
Richard Schütz 01: Er hat alles, was er erlebt hat, in sich aufgesogen wie ein Schwamm. Alles ist zu seiner Identität geworden.
Miron Zownir 01: Ich finde ja z.B., dass Bruno als Sänger sowas von unterschätzt wird. Ich finde ihn stärker als Tom Waits.
Werner Herzog 01 a,b: Der größte Schauspieler, größte, tiefste von allen, ist Bruno S. Niemand hat diese Tiefe und niemand hat diese Tragik auf einer Leinwand.
Sprecherin: Ihr habt wohl alle studiert, Jungs?! Könnt ihr bitte mal von Vorne anfangen?!
Kapielski: Na, dann guck mal, was Bruno da an die Tür geschrieben hat?
Sprecherin: [liest entziffernd] Frau Frieda Bremse?
Bruno S. 02a,b: Frau Frieda Bremse, geborene Schleinstein, am 21.12.1900. Das war doch die Frau Frieda Bremse, geborene Schleinstein. Das war meine Mutter.
Kapielski: Bruno wird am 2. Juni 1932 als Bruno Schleinstein in Berlin Tempelhof geboren. Unehelich.
Klaus Theuerkauf : Mit 8 Wochen war er zum ersten Mal in der Klinik. Der Vater, den er ja immer so verachtend seinen Erzeuger, über den sprach er ganz schlecht und der hat ihn in die Klinik gebracht, weil er unterernährt war und die Mutter völlig überfordert war. Und dann gab es noch eine Elfriede und ein Hieronymus, das waren andere Geschwister. Der Bruno war der jüngste.
Bruno S. 03: Ick weeß bloß, dass ich unerwünscht war in der Familie, also ich war zu viel gewesen, man hat mir in die Heime gestopft. Und da fing das mit den Waisenhäusern und mit den Erziehungsanstalten an.
Klaus Theuerkauf 05: 1935 ist der das erste Mal drin gewesen, d.h. das war ja in der Hitlerzeit.
Kapielski: Nach sechs Jahren in der Samariteranstalt Ketschendorf kommt Bruno dann im Februar 41 in das Erziehungsheim Wiesengrund der Bonhoeffer Nervenklinik Berlin. Einen Monat später, mit neun Jahren, wird er in die angeschlossene Hilfsschule eingeschult. Hier ist seine Schulakte. Lies mal!
Sprecherin: Bruno Schleinstein ist ein frisches, aufgewecktes Kind. Seinen Kameraden ist er ein guter Freund. In der Gruppe ist er mit Interesse bei der Arbeit und von einer kaum zu befriedigenden Wissbegierde. In der Schule macht er gute Fortschritte. Beobachtet gut, spricht deutlich sinnvoll, spontan oft Fragen. Charakter: gutmütig, freundlich. Gedächtnis und Merkfähigkeit gut. Also, war er nur da drin, weil er ein uneheliches Kind einer alleinerziehenden Mutter war?!
Kapielski: Für die Nazis war er damit „asozial“. Über seine Mutter weiß man so gut wie gar nichts. Es gibt nur ein paar sonderbare Briefe, die sie an das Erziehungsheim geschickt hat.
Sprecherin: Mai 1942. Sehr geehrter Herr Doktor, In unserem Hause wohnt der Teufel und zu dem gehen Sie nicht. Was ich an meinem Sohn Bruno versäumt habe, das hole ich nach. Was habe ich schon für meine Kinder gebetet und immer und immer ist der schlechte Mensch dazwischen. Ich verbitte mir ein für alle Mal unsern Nachbarn. Er hat mich für das Arbeitshaus stempeln lassen. Er hat meine Kinder für ungezogen erklärt. Er hält meine Kinder für verrückt. Ich musste mein Kind, den Bruno, der Anstalt übergeben und der Junge ist gut und niemand ist krank von uns. Könnte ich mich einmal zu Ihnen aussprechen.
Bruno S. 04: Wenn jemand ins Bett genässt hat - das war während der Nazi-Zeit - um die Leine zu ersparen, die Wäscheleine, da musste derjenige den ganzen Tag so auf dem Hof mit dem Laken stehen. Und hinter dem stand der Erzieher mit dem Knüppel. Und wehe dem, die Arme sind müde geworden, dass die runter gefallen sind, schon hat´s Dresche gegeben.
Sprecherin: Das ist doch das Letzte!
Kapielski: Hier! Noch ein Brief.
Sprecherin: Ich möchte Sie höflichst darauf aufmerksam machen, jedem der mir wehe tut und getan hat und der mir so viel durch den Teufel anhängt mit Lügereien überall, wo es auch sei, auf das Energischste zu verbieten, mich nicht mehr mit irgendeiner Sache zu beleidigen. Sorgen Sie bitte dafür, denn ich habe genug um meine Kinder und mich gekämpft. Ins Gesicht bin ich unschuldig geschlagen worden und man wollte mich mit den Kindern schlagen. Wo sind denn seine Geschwister? Was war da los?!
Kapielski: Seine Schwester Inge Elfriede ist zu diesem Zeitpunkt bei ihrem Großvater. Und Rudi …
Bruno 05a,b,c: Tegel. Das Grüne Haus Tegel. Das grüne Haus Tegel, jaaaa. Das Grüne Haus Tegel, da war mein Bruder gewesen. Und ick war doch dazumal in dieses Heim. Beim Spaziergang sind wir da vorbei gekommen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass mein Bruder im Grünen Haus Tegel ist und er konnte das auch nicht ahnen, dass ich da bin. Vielleicht wollten sie das nicht ahnen, weil die liebe Mutter (brüllt) die Schnauze gehalten hat. Und wenn ich Grünes Haus Tegel höre oder irgendwie von Fremde, dann kann ich affig werden. Ich brauch´ nur an eins zu denken: „Es scheinet der Frühling so licht durch den Hain, es rieselt die Quell dort im Sande. Weiter nur zu! Weiter nur zu Zigeunerkind! Hat keine Ruh!“
Musik 03: Bruno „Es scheinet der Frühling“ [spricht zur Akkordeonbegleitung] Glück ist nur Schein. Es gibt kein Glück. Darfst nie glücklich sein. Glück ist nur Schein.
Kapielski: Das „Grüne Haus Tegel“ war auch eine Erziehungsanstalt. Hier ist ein dritter Brief von Brunos Mutter. Alle im Abstand weniger Tage.
Sprecherin: Zeig mal! (Papier fetzt) Sehr geehrter Herr Doktor, es ist mir traurig für den Bruno. Er hat bei der Entbindung Fruchtwasser in den Mund bekommen. Das ist ärztlich festgestellt. Was soll das denn jetzt?! Und hier: Retten Sie mir auch den Rudi und die Inge!
Kapielski: Ich fürchte, sie wird Bruno keine große Hilfe mehr sein, wenn sie tatsächlich dachte, dass die Nazis ihren Kindern helfen würden. Was schreibt sie denn noch?
Sprecherin: Denn krank ist in unserer Familie niemand und durchgemacht haben die Kinder sehr viel hier im Hause. Vielleicht komme ich Dienstag zu Bruno, wohl erst am Sonntag. Das will ich dir auch geraten haben!
Bruno 06 a-e: Also in den Krankenhäusern und in den Anstalten, da habe ich nie Besuch bekommen. Solange wie ick da drinne war. Und überall dasselbe Klima: Wer keinen Besuch bekommt, ist eben kein Mensch. Der ist nur noch ein Halber, der ist ´ne Ruine in Menschengestalt. Und das wird mich auch ewig verfolgen. Und das lässt mir auch keine Ruhe. Dich kiekt keener mehr mit dem Arsche an! Ick bin nämlich verspottet worden genug! Ick gloob´, ick müsste mir´n Strick nehmen und aufhängen. Warum? Weil ich keinen Besuch kriege.
Sprecherin: Sie kam nicht.
Kapielski: Nein. Sie hat noch zwei Briefe geschrieben. Ob sie je Antwort erhalten hat, ist unklar. Im Haus Wiesengrund waren ab 41 die psychiatrischen Abteilungen der Städtischen Nervenklinik für Kinder untergebracht. Genau in diesem Jahr kommt Bruno dorthin. Abteilung zwei hatte etwa 30 Betten und erhielt 42 den täuschenden Zusatznamen „Kinderfachabteilung“, in der so genannte „Reichsausschusskinder“ eingesperrt wurden. Kinderfachabteilung- das sollte wissenschaftlich klingen und bei Eltern Vertrauen schaffen. Tatsächlich führten Nazi-Ärzte hier Versuche an Kindern durch, die häufig tödlich endeten.
Bruno S. 07: Dieser kleine Raum war der kleine Operationssaal von Wiesengrund. Und da wurden die Menschen abgefertigt mit Genickschuss und Luftballon. Das war eine Enzephalografie. Der Genickschuss war zum Beispiel die Lumbalpunktion und der Luftballon war z.B. wenn sie die Leute da Luft rein gepumpt haben zum Röntgen, nich, damit dieses Gehirn nicht auf den Knochen stößt, dass das schweben tut. Das hat ungefähr 24 Stunden gedauert, nich, bis sich das dann wieder eingeordnet hat.
Sprecherin: Hat man an Bruno diese Versuche durchgeführt?
Kapielski: Das ist eine der offenen Fragen um Bruno. Schlimm genug, wenn er es bei anderen miterleben musste. Er war gerade mal zehn Jahre alt.
Bruno S. 08 a-d: Gott nee, da könnt ick. Das war auch während der Hitlerzeit. Giftschlangen! Giftschlangen, weil sie so fromm und dett faustdick hinter die Ohren gehabt haben. Weil Kinder, die meinetwegen hier wackelten oder watt, ditt waren doch ooch kranke Kinder. Die sind sie ja von hinten rangegangen und haben den ein paar Ohrfeigen gegeben. Die sind ran geschlichen, so auf Zehenspitzen. Nich. Und dann ging ditt los. Entweder so oder mit dem Knüppel, damit der oder das gar nicht merken soll. Und damit würd es nicht besser, da kann dett schlimmer werden. Was sollen die denn unternehmen, die Kinder? Die kriegen doch kein Recht.

Kapielski: Die Kinder können nur darauf hoffen, in eine Pflegefamilie zu kommen. In seiner Schulakte gibt es einen Briefwechsel zwischen dem Jugendamt Berlin und Haus Wiesengrund vom März 42. Bruno wird bescheinigt, dass er dafür in Frage käme.
Bruno S 09 a,b,c: Aber ich erzähle euch jetzt eine andere Geschichte. Ich hatte Saaldienst gehabt. Ich war im Heim. In der Massenunterbringung der Lieblosigkeit. Und als ick alles fertig gemacht hatte, alles fertig war, hab´ ick ma hier hingesetzt, am Fenster. Und guckte rüber nach ein bestimmtes Gebäude. Und am Abend, da war Fliegeralarm. Da kamen die Bomben. Und da wurde dieses Gebäude bombardiert. Bis auf die Grundmauern. Und das hat gebrannt. Und da saß er so. Und er guckte immer rüber und immer rüber.
Klaus Theuerkauf 06 a,b: Weil diese Schweinchen von Pflegern, die sind in den Luftschutzkeller und haben die Kinder oben gelassen. Und die Kinder haben oben gesehen, wie die ganze Silhouette und die Skyline brennt. Das hat er alles gesehen. Also der ist schon durch die Hölle gegangen der Junge. So was kann man auch nicht vergessen. Ich sagte manchmal: „Bruno, jetzt hör doch mal auf, ich kann’s nicht mehr hören!" Da ewig drauf rum zu kauen auf deinem wunden Finger. Und da sagt er: "Nee, nee. Es gibt Wunden, die heilen halt nicht."
Bruno S. 10 : Ick würde jeden Fremden, den ick sehe, der mich so dusslig ankiekt für ein Nazischwein halten. Jeden! Kann mir einer sagen, was er will. Ich traue den Menschen nur soweit, wie ein Schwein scheißen tut.
Kapielski: Zwei Jahre später kapituliert Nazideutschland. Bruno bleibt trotzdem weggesperrt. Am 13. Juli 45 bricht er – nicht zum ersten Mal - aus:
Sprecherin: Bruno entwich erneut nachmittags aus dem Heim, nachdem er erst zwei Tage zuvor zurückgebracht worden war. Er erbrach seinen Schrank, vertauschte seinen Lazarettkittel mit einem Privatanzug und entlief. Frl. S. und eine Helferin bemerkten ihn im letzten Augenblick, konnten ihn aber nicht mehr einholen. Sauber!
Kapielski: Er wird natürlich geschnappt. Nach dem Tod seiner Mutter 47 bricht er noch häufiger aus. Oft finden sie ihn dann an ihrem Grab wieder.
Musik 04: Bruno; Lied „Mamatschi“ wird angespielt und läuft im Hintergrund weiter
Bruno S. 11: Sie holten ihm, oder sie trugen ihm sein armes Mütterlein. Ich betone extra: armes Mütterlein! Und da fiel ihm seine Kindheit ein. Da sprach das Kind in dem Mannesalter zu diesem Einfall dieselben Worte, als dieses Fohlen, das jetzt an der Kutsche steht, gepresst: "Mamatschi, schenk' mir ein Pferdchen! Ein Pferdchen war mein Paradies. Mamatschi, kurze Pause, Trauerpferde wollt' ich nicht."
Kapielski: Ein Jahr später wurde er in die geschlossene Abteilung der Nervenklinik für Kinder überwiesen:
Sprecherin: Wegen unbeeinflussbarer Fluchttendenzen ist das Verbleiben des Jungen in der hiesigen Klinik nicht möglich. Wir bitten um vorübergehende Aufnahme in einem festen Haus. Diagnose: Psychopathie, Alter: 16, Gewicht: 39,5 Kilo, Größe:1 Meter 42
Kapielski: Psychopathie würde man heute als schwere Persönlichkeitsstörung beschreiben. Fünfzig bis achtzig Prozent aller Gefängnisinsassen leiden unter dieser antisozialen Störung, und zwar weil sie eingesperrt sind.
Sprecherin: Hier! Hör mal! 49 kommt er dann wirklich zu einer Pflegefamilie in den Grunewald.
Kapielski: Der Versuch, Bruno in eine bürgerliche Familie zu integrieren, scheitert aber nach einem Jahr und Bruno muss zurück in die Anstalt.
Sprecherin: Bei der Aufnahme erstmals ein Radio mit Kopfhörern registriert.
Kapielski: Sie werden ihm abgenommen.
Bruno 12 a,b: Nach dem Kriege bin ich getürmt von ´de Heime. Da war ich mal drei Jahre draußen. Und dann hammse mir mal wieder eingefangen und dann wieder rinn. Denn ein freier Mann warst du nie gewesen.
Kapielski: 55 ist Bruno nach Baden-Württemberg abgehauen. Er kommt in Offenburg und Ittenhausen zeitweise in Heimen unter. Von dort aus schlägt er sich nach Hamburg durch und arbeitet einige Monate auf einem Kohleplatz. Er kehrt nach Berlin zurück und meldet sich freiwillig in der Bonhoeffer Nervenklinik.
Sprecherin: Hast du gerade freiwillig gesagt?!
Kapielski: Hier ist das Aufnahmeprotokoll.
Sprecherin: Patient berichtet umständlich-treuherzig, er habe sein Entweichen wieder gut machen wollen und sei deshalb von Hamburg zurück gekommen. Habe lange gespart dafür, schließlich Ziehharmonika ins Leihhaus gebracht, um die letzten 4 Mark für das Fahrgeld zusammen zu bringen. Jedenfalls besitzt er jetzt: 1 Plätteisen, 1 Kugelschreiber, 1 Nagelpfeile, 1 Feldflasche, 3 Kleiderbügel und 1 Akkordeon.
Klaus Theuerkauf 07a,b: Nach dem Krieg hat ein Instrument gelernt. Über dieses Instrument hat er sich raus katapultiert aus der Isolation.
Atmo 01: Akkordeon-Atmen
Kapielski: Am 22. April 58 wird Bruno auf eigenen Wunsch entlassen. Da war er 26 und hatte die letzten 23 Jahre seines Lebens fast ununterbrochen in Anstalten und Heimen verbracht.
Bruno 13: (Signalhorn) Denn der Bruno, der geht jetzt in Freiheit.
Und wie sieht die Freiheit aus? Wie sieht die aus? Oh, Stacheldraht, oh, Stacheldraht. Ist es das? Wie sieht die Gerechtigkeit aus? Da sind Fragen, die schwer zu beantworten sind.
Atmo: aus
Kapielski: Bruno hat fünf Jahre lang Laufzettel für Kreuzberger Notunterkünfte, bis er 63 in seine erste eigene Wohnung in der Flottwellstraße 5 zieht. Er verdient sich Geld als Hilfsarbeiter.
Sprecherin: Da war doch vorhin so ein Brief … ach ja, hier!
Kapielski: Sehr geehrter Herr Abteilungsleiter des Isophonwerks 1. Ich bitte darum, dass ich nach den Feiertagen schnellstens meine Papiere kriege, da ich auf diese Arbeit keinen großen Wert lege. Mit diesem Lohn von 2 Mark 20, da wische ich mir den Arsch. Hochachtungsvoll Schleinstein, Bruno, Abt. Stanzerei Werk 2.
Sprecherin: Sowas wollte ich auch schon immer mal schreiben!
Kapielski: Bruno hat bestimmt noch mehrere davon verfasst, denn in den nächsten Jahren hat er viele Aushilfsjobs, bei denen ihm meistens nach kurzer Zeit gekündigt wird oder er selbst kündigt.
Eisholz 03 a,b: Er hat geraucht und hat gesoffen. Und geschrien. Wenn er betrunken war, hat er die Fenster aufgemacht, in die Hinterhöfe geschrien, dass die Nachbarn bei ihm vor der Tür standen. Ein ganz aggressiver Mann.
Kapielski, Sprecherin, Martin Wiebel 01, Matthias Reichelt 04: Kein Wunder, dass manch einer wütend wird, dem man die Kindheit geraubt hat.
Matthias Reichelt 05: Und er konnte ja sehr wütend werden. Sehr wütend.
Kapielski: ´68 wird er dann Gabelstaplerfahrer bei den Borsig-Werken und zwar für die nächsten 21 Jahre. UND jemand schenkte ihm ein Klavier!
Musik 05: „Leise tönt die Abendglocke“ wird angespielt, läuft im Hintergrund weiter
Bruno S. 14: Na, kommt schon ihr lieben Instrumente! Ick interessier´ mir für Musik und ich will ja auch zeigen, dass ich nachher was kann.
Musik 05 geht über in Musik 06: „Träumen von Berlin“
Matthias Reichelt 06: Du musst dir vorstellen, er hatte so einen kleinen Koffergepäckwagen, also auf zwei Rädern. Da war vertäut ein Stuhl, sein Akkordeon, sein Glockenspiel, manchmal noch ein Xylophon. Und das zog er hinter sich her und baute dann immer seine kleine Bühne auf und fing an zu spielen. Und dann gingen die Fenster auf, die Leute hörten zu, warfen Münzen runter, manchmal sogar einen Schein.
Kapielski: Die Idee des Moritatensingens kam Bruno, als er 66 in einer Zeitung eine Asbach Uralt Werbung entdeckte, in der an die Moritatensänger erinnert wird. Der Ausschnitt hängt hier immer noch an der Wand. Und direkt da drunter hat Bruno den ersten Artikel geklebt, der jemals über ihn verfasst wurde.
Sprecherin: Titel: Am Wochenende geht Bruno auf Moritatentrip. Moralische Gesänge auf Hinterhöfen – Schleinstein will alte Schnulzen wieder populär machen.
Kapielski: Darin sagt er, er hätte etwas „Wahrhaftiges“ in dieser Musik gefunden und das müsse er allen zeigen, etwas „durchgeben“.
Sprecherin: „Die Wahrheit mobil machen“, steht hier.
Kapielski: Diesen Zeitungsartikel hat Martin Wiebel geschrieben Bruno nannte ihn immer seinen Entdecker.
Martin Wiebel 02: Ich habe am Wedding eine kleine Studentenbude gefunden. Hinten gab es einen kleinen Hof mit einer Teppichklopfstange. Und auf diesem Hof höre ich plötzlich jemanden zum Akkordeon singen, gucke runter, gehe auch runter. Und da sitzt ein mir unbekannter Mensch mit einer ehemaligen Schulkarte, die er beklebt hatte mit eigenen Zeichnungen. Und zwar zu den Moritaten, die er vorsang. Er hatte keine Strümpfe an, hatte einen Hut auf, einen Trenchcoat an und er sang auf sehr ungewöhnliche Weise.
Bruno S. 15: Naaa, wann war das gewesen?
Martin Wiebel 03: 1967/68. Der damalige Sekretär der Abteilung Literatur, der hatte vor, ein Moritatenfestival zu organisieren. In der Akademie der Künste am Hanseatenweg. Und irgendwie beim Recherchieren, muss der über diesen Zeitungsartikel gestolpert sein. Jedenfalls kam es so zu einer Einladung für Bruno auf die Bühne der Akademie der Künste.
Kapielski: Ich hab die Platte von dem Festival hier!
Musik 07: (Atmo: Saalapplaus) Bruno „Zigeunerkind“ (Akademie der Künste 1968)
Martin Wiebel 04 a,b: Und eigentlich war er der einzige - man könnte sagen - authentische Moritatensänger. Anwesend jedenfalls, an diesem Abend, war ein Student, der DFFB - Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin.
Sprecherin: Und wer war das?
Kapielski: Das war wohl Lutz Eisholz.
Martin Wiebel 05: ja, Eisholz - genau.
Lutz Eisholz 04 a,b,c: Absoluter Unsinn. Ich habe zwar Bruno entdeckt, aber von der Veranstaltung wusste ich gar nichts. Eine Mitarbeiterin im Hause des damaligen SFB gab mir den Tipp, da gibt es einen Sänger, ein eigenartiger Mensch. Vielleicht wäre das ein Filmthema für Dich. Ich stand das erste Mal vor seiner Haustür, klingelte. Es gab nur einen Wortwechsel, er machte nicht auf. Beim zweiten Mal das Gleiche. Beim dritten Mal öffnete er die Tür. Wir verabredeten uns und ich kam zum vierten Mal zu ihm und er ließ mich in die Wohnung und begann dann 1969 "Bruno der Schwarze. Es blies ein Jäger wohl in sein Horn".

Kapielski: Die Sequenzen zum Film hat Eisholz in Brunos erster eigener Wohnung gedreht. Es gab keine Vorgaben, keine Verabredungen. Bruno erzählt ganz frei davon, was ihn beschäftigt.

Bruno S. 16: [teilweise mit Musik unterlegt] Warum soll ich überall verachtet werden? Nur weil ich in de Heime war und so weiter. Oder?! Huuaaaah! Was hab ich denn überhaupt noch von meinem Leben? Gar nichts mehr! Nich. Hab ich doch nichts mehr. Ich erwarte nur noch eins: Mir hat man verurteilt für die Einsamkeit. Das wird es sein.

Lutz Eisholz 05 a-e: Er war ja kein Schauspieler und in meinem Film schauspielert er ja nicht. Er ist ja gegenwärtig. Er wird durchsichtig gezeigt, wer und was er ist. Ich habe, als ich ihn kennenlernte, ein Produkt von einem Menschen vorgefunden, ein Produkt seiner Zeit, seiner Jugend und das fand ich erschütternd. Der Film wurde 1973 im Studiofilm am Montag im ersten Programm ausgestrahlt. Daraufhin meldete sich Werner Herzog in der ARD-Redaktion.

Werner Herzog Audiokommentar 01: Ich hatte gerade das Drehbuch fertig geschrieben.

Kapielski: Das Drehbuch für den Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“, bekannt als „Kaspar Hauser“.

Werner Herzog 02 a,b: Und dachte dann, um Himmels Willen, wer kann das denn spielen? Kann das ein Schauspieler überhaupt? Und ich sah durch Zufall einen Film von einem damaligen Filmstudenten in Berlin, Lutz Eisholz. Und da war ein Straßensänger in Berlin zu sehen. Bruno S. Und der hat mir so außergewöhnlich gefallen, dass ich gesagt habe, das ist er. Ich weiß es.

Lutz Eisholz 06: Wir trafen uns in Berlin, besuchten gemeinsam Bruno und ich hab quasi Bruno an Werner Herzog übergeben.

Werner Herzog 03 a,b: Und der hat das phänomenal gut gleich verstanden, um was es da ging. Und Bruno hat sich übrigens auch so stark identifiziert mit der Rolle, dass er nachts sein Kostüm auch nie auszog.

Kapielski: Der Film lief als deutscher Beitrag in Cannes.

Sprecherin: Bruno auf´m roten Teppich!
Kapielski: Ja, aber anstatt auf dem Roten Teppich rumzustehen, sitzt er mit seinem Akkordeon vorm Eingang eines kleinen Kinos in Cannes, wo Lutz Eisholz parallel seinen Film „Bruno der Schwarze“ zeigt, singt Schauerballaden, während Kaspar Hauser die „Goldene Palme“ gewinnt.
Martin Wiebel 06: Und [schnippt mit den Fingern] DAS war der Klick und plötzlich war Bruno ein Weltstar.
Musik 08: [Bruno S.: mit Akkordeon] Glück ist nur Schein – wie eine Eisfläche. Glück ist nur Schein, Zigeunerkind, aber wie eine Eisfläche. Darfst nie glücklich sein.
Werner Herzog 02: Bruno hat immer gesagt: Ich will kein Filmstar werden. Ich will das nicht. Ich bin Bruno. Ich will am Wochenende auf die Höfe gehen und singen.
Klaus Theuerkauf 09 a,b: Ich hab ihn dann auch mal gefragt über den Herzog und so, weil er immer gegreint hat. Am Anfang bin ich da drauf rein gefallen und irgendwann ging´s mir wahnsinnig auf den Wecker. "Der hat ja seinen Kinski jetzt und blablabla". Und da habe ich gesagt: "Ja Bruno, der hat doch extra jetzt den Stroszek gemacht, weil er Dich nicht als Woyzeck genommen hat." Und Stroszek ist ja ein Film, der gesessen hat.

Kapielski: Sehr geehrter Herr Herzog, hiermit möchte ich bestätigen, dass ich grundsätzlich bereit bin, bei Ihrem Projekt „Stroszek“ mitzuwirken. Aber: ich will eine anständige Gage. Wie wäre es, wenn ich auch an dem Umsatzeinkommen – ich möchte nicht zu hoch hinaus – sagen wir mal mit ein oder zwei Prozent beteiligt werde? Meine Nachbarn möchten gerne Statisten sein. Die Hausverwaltung Tiergarten Alt-Moabit bekommt 103 Freikarten. Sie sichern meine Wohnung und meine Arbeit. Es fällt doppelt so schwer, weil ich von niemandem hier in Berlin und woanders anerkannt werde. Denkt an das Lied „Ein Zigeuner verlässt seine Heimat“. Sind Sie einverstanden, dann den Vertrag! Aber in großen Buchstaben, so dass ich es lesen kann. Kleine Buchstaben fallen weg. Viele Grüße. Bruno. Berlin, den 25. August 1976.

Werner Herzog 03: Der größte Schauspieler, größte, tiefste von allen, ist Bruno S. Nicht Kinski oder Christian Bayle. Bruno! Der ist es! Ich habe nie mit jemand gearbeitet, der dieses Kaliber hatte. Und das wusste er auch.
Bruno 17: Ja, jetzt bin ich ja nun da. Also, ick staune drüber.

Sprecherin: Ich auch!

Kapielski: Na, sieh mal einer an! Auch „Stroszek“ wird ein Erfolg. Bruno kehrt zurück zur Arbeit in der Fabrik und spielt an den Wochenenden auf den Hinterhöfen.

Sprecherin: Und jetzt wird er erkannt als Kaspar Hauser, als Stroszek?

Kapielski: Ja! Von Klaus Theuerkauf zum Beispiel.

Klaus Theuerkauf 08: Ich habe Bruno angequatscht am Hansaplatz. Da lief er da und ich lief neben ihm her und sprach ihn an und er hat so ganz bärbeißig reagiert. Und dann habe ich gesagt: "Ja, ich bin völlig fasziniert von den Filmen und möchte mich doch mal bedanken, dass ich so etwas Tolles sehen durfte." Und da hat er gesagt: "Und würdeste mir auch zuhause besuchen?" Und da habe ich gesagt: "Ja, warum nicht."
Frank E. Marks 02 a-d: Wir haben diesen Film als sehr junge Leute gesehen, ja fast noch Kinder, mit 15 oder so. Jedenfalls war das damals schon ein ziemliches Ding, das zu sehen. Das hat einen schon ganz schön aus seiner ganzen, also mich aus meiner ganzen Spießigkeit gerissen. Das waren schon richtige Ereignisse, die einem den Schwamm, den man vorm Kopf hatte, weggenommen hat.

Richard Schütz 02: Er hat sich mit dem Kaspar Hauser identifiziert, menschlich, und dieser Kaspar Hauser und der Stroszek, der wurde zum Teil seiner Persönlichkeit.

Kapielski: Oder auch anders herum! Die Szenen werden in den Drehbüchern schon beschrieben, aber Dialogskripte gab es vorher nicht. Der Film wird übrigens in Brunos zweiter Wohnung gedreht. Eva Mattes schreibt in ihrer Autobiografie, dass sie Bruno immer Stichwörter geben musste. Was er dann sagte, hat er selbst formuliert.

Sprecherin: Und dann kam der nächste Film mit Herzog!
Kapielski: Danach kam
Martin Wiebel 07: Ein rabiater Absturz auch noch von einem sehr viel höheren Berg. Wer kommt schon vom Hinterhof nach Cannes.

Bruno S. 18: Was hatte er mal gesagt? [zitiert aus "Jeder für sich und Gott gegen alle"] Ich sehe einen Berg, auf den viele Menschen aufsteigen, wie bei einer Prozession. Und da oben ist der Tod. OFF Film-O-Ton: Da habe ich das Meer gesehen. Ich habe einen Berg gesehen und viele Menschen, die sind auf den Berg aufgestiegen wie in einer Prozession. Da war viel Nebel. Ich konnte es nicht ganz klar sehen. Und oben, da war der Tod.

Atmo 07: Akkordeon und Glockenspiel laufen rückwärts mit viel Delay. Wird eingeblendet, wird lauter, reißt ab.
Lutz Eisholz 07: Immer wenn ich zum Bruno kam, schimpfte er auf Werner Herzog und ich bin ganz sicher, als Werner Herzog kam, hat er auf Lutz Eisholz geschimpft.

Werner Herzog 04: Nein, es ist nie zu Versöhnung und nie zu einer Entfremdung gekommen. Verbrüderung, Versöhnung war nie notwendig gewesen.

Sprecherin: Ja, nee, ist klar!

Kapielski:[Notiz Bruno S.] „Weihnachten 1975 nenne ich Cannes, weil man mir in Cannes den Tod gezeigt hat. Der Tod tritt ein durch Kontaktarmut, durch die Mitmenschen. Eisholz ist Herzog sein Bluthund. Immer, immer muss der Bruno seine Haut zum Markte bringen, sonst haben die Wölfe in Menschengestalt keinen Fußabtreter.“

Bruno S. 19: Da kann man nur noch eins sagen: Dreimal V. VVV. Und jetzt betone ich: das erste V heißt vergangen, das zweite V heißt vergessen und das dritte V vorüber.


Kapielski: 81 nimmt Bruno noch einmal eine kleine Rolle in Klaus Tuschens „Frontstadt“ an. Es ist seine Abrechnung mit der Filmwelt, „der Hölle zum habgierigen Scheine“. Es wird dauern, bis er sich wieder vor die Kamera begibt. Jetzt konzentriert er sich auf seine Musik und auf die Malerei. Kurz vor Weihnachten erfüllt er sich einen Traum: er kauft sich für 12.000 Mark einen Steinwegflügel, den, an dem du gerade sitzt.

Sprecherin: Er hat viel Klassik gespielt: [sie nimmt ein paar Hefte in die Hand, blättert] Hier sind Noten von Mozart, Brahms, Beethoven, Shostakovich.

Richard Schütz 03: Bruno war ein unglaublich Musik liebender Mensch. Ich habe selten einen Menschen getroffen, der nicht wirklich professioneller Musiker war, aber in aller Leidenschaft seiner Seele Musiker.

Miron Zownir 02: Als Sänger war er meiner Meinung nach am stärksten, weil da seine Emotionen, sein ganzes Leid, seine ganze Vergangenheit und seine ganzen Wünsche und seine ganzen Träume irgendwie am stärksten komprimiert waren.
Bruno S. 20: Jetzt kommt der Chor der Patienten. (Klavier) Na! ... Na, wo bin ich denn?
Kapielski: Na in der Probe mit dem Oberkreuzberger Nasenflötenorchesters!
Musik 09: Bruno : „Ja! Moment!“ mit den Nasenflöten „Ich brauche euer Mitleid nicht“ Strophe 1 und 2
Kapielski: Tja, und da hab´ ich auch mit geflötet!
Sprecherin: Ja, logisch! Mein lieber Herr Kapielski! Erwachsene Männer spielen Nasenflöte im Orchester!
Kapielski: (…) [Kapielski erzählt von den Proben, gemeinsamen Erlebnissen o.ä.]
Sprecherin: Na, das erklärt ja so einiges!
Musik 10: Bruno mit den Nasenflöten „Ich brauche euer Mitleid nicht“ Strophe 3
Klaus Theuerkauf 10: Donnerstag, Freitag, Samstag war der meistens da. Und nachher war es nur noch samstags wegen der Nasenflötenorchesterprobe. Am Anfang fand er das ganz grauenvoll und nachher war er fester Bestandteil der Probe.
Bruno S. 21: Darf ich dir auch jetzt ´ne Frage stellen?
Klaus Theuerkauf 11: Immer, immer, bohrend. Was ist schwerer: Malerei, Musik, seine Kunstformen. Das sind ja Fragen, die man auch nicht beantworten kann. Für ihn war die Malerei das Schwierigste, glaube ich. Weil er manchmal richtig wütend und verzweifelt war, wenn er an Grenzen gestoßen ist.
Bruno S. 22: Tja, und da würde man fragen, welche Farbe könnte man die Wahrheit geben, wenn man ein Bild malt und da kommt irgendwie ne Wahrheit zum Vorschein. Könnte die Wahrheit auch ein Spiegel sein? Könnte die Wahrheit auch eine Blende sein? Die Wahrheit ist was, wo manch einer wird stutzig sein.
Klaus Theuerkauf 12: Meistens ist es Mord und Totschlag. Misstrauen von menschlichen Regungen, Enttäuschungen. Was hat er meistens drin? Ja, Moritaten. Also eigentlich fing das ja an, dass er seine Lieder illustriert hat. Nachher hat sich die Malerei verselbständigt. Dann hat er größere Formate gemacht und sich als Maler begriffen.
Bruno S. 23: (Klavier) Auch wenn ich die Bilder male. Ich steh´ ja auch manchmal nachts da und zeichne. Nicht nur am Tage, sondern auch nachts. Und nachts habe ich dann die besten Gedanken und dann male ick.
Kapielski: Seine erste Ausstellung hatte er 81 in einer Schöneberger Kneipe. Ein Jahr später stellt er bei endart in Kreuzberg aus. In den neunziger Jahren verkauft er die ersten Bilder. Ruhelos sucht er nach seinen Geschwistern, schreibt Einwohnermeldeämter an, sucht in Telefonverzeichnissen.
Klaus Theuerkauf 13: Und der Bruder, den hat er einmal getroffen. Der arbeitete irgendwie als Kellner. Und Bruno meinte: "Die haben sich geschämt." Jetzt muss man sagen, Bruno war natürlich immer so ein bisschen ungepflegt.
Richard Schütz 04: Er hat dann ganz bewusst diese Identität, diese Rolle des Penners, des Aussätzigen angenommen. Quasi als Selbstschutz. Ja, das ist mein Schutz, die lassen mich in Ruhe. Und die waren eben die normalen Bürger, die Kinder, die Erwachsenen, die ganz normalen Bürger, von denen er sowieso nie anerkannt wurde.
Klaus Theuerkauf 14: Er wollte so geliebt werden, wie er ist, ne. Er wurde ja immer gehänselt. Ich kenn hier Leute auf der Oranienstraße, die haben gesagt: "Warum gibst Du Dich denn mit dem Penner ab?" Da habe ich gesagt: "Das ist ein ganz feiner Mensch. Wollt ihr denn jetzt alle vom Aussehen her beurteilen? Na toll."
Sprecherin: So bin ich ihm wohl begegnet!
Klaus Theuerkauf 15: Mit Frauen hat er es ja nicht so gehabt, ne.
Elfriede sollte ein Bild geschickt werden, damit sie tot umfällt. Nach seinem Tode sollte man das schicken. Aber das war so gedacht, das die das Bild bekommen sollte mit so Raben und ´ner Urne und "Vergessen, Vorbei, Vorüber" stand drauf. Er hat immer phantasiert, dass die beiden Besuch bekommen hätten und er nicht.
Bruno 24: Gibt es Menschen, die vielleicht Angst haben, wenn sie dies oder jenes Bild sehen?
Sprecherin: Und? Hat seine Schwester das Bild bekommen?
Kapielski: Siehst Du dahinten das große Paket? Da ist das Bild drin, gerahmt, verpackt, adressiert. Als man es nach Brunos Tod zustellen wollte, kam heraus, dass sie vor ihm gestorben war.
Bruno 25: Ich habe schon manchmal, wenn ick ein Bild gemalt habe, einen Moralischen gekriegt. Da habe ich schon´n Moralischen gekriegt! Da habe ich schon´n Moralischen gekriegt! Ick denke, Mensch, so wie dett Menuett da von Händel geübt habe, watt auf Moll übergeht. Dur ist farbig und Moll, naja, da nahm der Schuster... dett geht dann ins mattierte über. Und dann nachher auf schwarz-weiß. Da nahm der Schuster sein Schuhmachermesser und schnitt ihr ab den Schlund.
Musik 11: Bruno „Sabine war ein Frauenzimmer“ wird hochgezogen und endet auf der letzten Strophe „da nahm der Schuster das Schuhmachermesser…“
Kapielski: Die Abwesenheit seiner Mutter, aber wohl noch mehr seine Erfahrungen mit den Erzieherinnen im faschistischen Deutschland machten für Bruno Vertrauensverhältnisse zu Frauen nahezu unmöglich. Erst im Alter entstanden zwischen Bruno und wenigen Frauen so etwas wie Freundschaften. Klaus Theuerkauf bringt ihn nach Köln zu Susanne Zander, eine Galeristin. Sie stellt ihn aus und bringt ihn auf Messen. Namenhafte Sammler wie Arnulf Rainer kauften Bilder für ihre Privatsammlungen. Er wird als Außenseiterkünstler bekannt, seine Bilder weltweit verkauft. Bruno war ein rastloser Arbeiter und Autodidakt. Viele sagen, sie hätten ihn selten sitzend gesehen.
Bruno AB1: (Nachricht 26, biep) Also, ich komm´ mit dem Computer nicht zu recht. Da wird ihm nur was hingeworfen zum Fraße. Watt ick haben will, das krieg ich nicht! Kann ick mir auf dich verlassen, oder bin ich verlassen?
Jan Ralske 02 a-d: Da war der Kaspar Hauser U-Bahn Station Kurfürstenstraße die Treppen hoch und ich bin einfach da hinterher rausgesprungen, auf die Straße ihn angesprochen. Und er guckte mich erst mal so sehr skeptisch an. Ich hatte nur gesagt, Entschuldigung, aber ich glaube, ich kenne Sie. Und er guckte mich an so, seine Antwort war, ja, weil man den Film gesehen hat.
Bruno AB2a,b: (Nachricht 25, Sonntag, 20 Uhr 28, Summen) Ich freue mich, wenn ich von dir was höre! Ich bin mit dem Ding nicht zufrieden. Ich schmeiß das bald gegen ´ne Wand. Gruß, Bruno.
Kapielski: Jan Ralske hat zwei Filme mit Bruno gemacht.
Jan Ralske 03 a-e: Diese Filme, das ist ein Teil der Freundschaft. "Seeing things", das ist entstanden aus der Tatsache, dass er mit 75 oder so entschieden hat, so ein Laptop auf dem Flohmarkt zu kaufen. Gleich wollte er loslegen mit 3-D-Programmen. Und wollte dann ganz bestimmte Sachen machen, was das zeichnen betrifft. Und dann fing ich an, das einfach nur zu dokumentieren, weil das war so seltsam, wie er sich da an den Computer ran tastete.
Richard Schütz 05: Ich meine Bruno hat wirklich bis zum letzten Atemzug gelernt.
Bruno AB3a,b: (Nachricht 36) Ich werde jetzt tüchtig üben, üben, üben! An diesem Computer. Ich glaube, es klappt sogar. Gruß, Bruno.
Kapielski: 25 Jahre nach Stroszek kann auch Miron Zownir Bruno für zwei Filmprojekte gewinnen.
Miron Zownir 03: Bruno ist in erster Linie ein Darsteller, der über seine Darstellung Zugang zur Schauspielerei gefunden hat.
Miron Zownir 04a: Es waren schon Rollen, mit denen er sich identifizieren konnte, aber auch Rollen, die von seiner Persönlichkeit vielleicht viel weiter weg waren. Und das war mir schon auch wichtig, ihn aus dieser Herzog-Zwangsjacke heraus zu ziehen.
Miron Zownir 04b: Es geht auch darum, dass Bruno sich weiterentwickelt hat. Ich meine, es gab einfach ein Leben nach Herzog und es gab ein Leben vor Herzog.
Miron Zownir 05: Viele, die an diesem Herzog-Mythos festkleben, die unterschätzen einfach Bruno - maßlos.
Atmo 01: Das Akkordeon atmet. Läuft im Hintergrund weiter
Atmo 08: Glocken
Kapielski, Sprecherin, Matthias Reichelt 07 und Martin Wiebel 08 sprechen versetzt: Der Winter kann auch im Hochsommer einbrechen. Und dieser Winter ist dann der Tod.
Kapielski: Rettungsdienst Einsatzbogen: 11. August 2010, Alarmzeit 10 Uhr 18, Kurfürstenstraße 38, OT Schöneberg. Bewusstsein: bewusstlos. Pupillen: ungleich. Atmung: keine. Puls: pulslos. Patient sitzend im Schreibtischstuhl am Flügel. Notfalleinsatzwagen abbestellt.
Atmo 09: die Kapellenorgel spielt „La Paloma“
Martin Wiebel 09a,b: Die Beerdigung selber fand ich wahnsinnig, wie plötzlich auf diesem Friedhof, ich weiß nicht, hundert Menschen waren, oder so.
Jan Ralske 04: Auf diesem kleinen Friedhof in Schöneberg da.
Martin Wiebel 10a-d: Ich hab nämlich immer gedacht, Bruno sei sehr einsam. Dass der so viele Sozialkontakte hat und Menschen die nebeneinander sich um ihn kümmerten, und dass er das auch alles zugelassen hat, das hat mich sehr überrascht.
Musik 12: Das Oberkreuzberger Nasenflötenorchester spielt am Grab. Shostakovich - Walzer Nr.3 (Violine und Nasenflöten)
Kapielski: Bruno hatte sein Testament schon 1985 geschrieben. Darin geht es einzig und allein um seine Instrumente: zehn Akkordeons, ein Bandoneon, ein Konzertflügel, ein Klavier, ein Celesta und eine englische Konzertina. Sie alle sollten in den Besitz des Berliner Musikinstrumentemuseums übergehen. Alles andere, unter anderem ein gut gefülltes Konto, soll der Rechtsanwalt und Notar Thomas Crasemann erhalten.
Sprecherin: Thomas Crasemann?
Matthias Reichelt 08: Ich weiß, es gab ganz viel Unruhe und viel böse Zungen auch. Keiner kannte Herrn Crasemann vorher. Und plötzlich war Herr Crasemann der Erbe des gesamten Brunoschen Werkes. Alles, was er besaß.
Kapielski: Nach Brunos Tod gehen Freunde und Förderer, die in Brunos Hinterlassenschaft viel mehr sehen als das Erbe eines alten, vergessenen Mannes, sondern den Nachlass des Künstlers Bruno S., auf den Notar zu. Sie wollen Brunos Erbe bewahren und katalogisieren. Crasemann hingegen hält sich vorerst an Brunos Testamentsauflage und lädt die Leiterin des Musikinstrumentenmuseums in Brunos Wohnung ein. Die konnte dort aber „kein Instrument von historischer Bedeutung“ entdecken. Schließlich hätte Bruno ja auch keins der Instrumente selbst erfunden, weshalb sie die Erbschaft nicht antreten könne.
Sprecherin: Da könnt´ ick affig werden!
Kapielski: Einen Vertreter der Deutschen Kinemathek, dem Filmmuseum Berlin, hat Crasemann auch eingeladen. Der konnte wiederum kein zentrales Objekt aus einem Film entdecken, obwohl er vermutete, dass da schon das ein oder andere Interessante zu finden sei. Er hat sich nicht weiter engagiert.
Sprecherin: Das sind doch beides durch Steuermittel finanzierte Einrichtungen! Die haben doch den Auftrag audiovisuelles Kulturerbe zu sichern!
Kapielski: Da hat sich wohl jemand schlau gemacht!
Sprecherin: Hab ich! Ich konnte auf eBay verfolgen, wie da die ein oder andere Glocke aus Brunos Besitz verkauft wurde und ich will gar nicht wissen, was noch!
Kapielski: Vieles wurde auf Flohmärkten angeboten oder ganz und gar entsorgt. Bildnerische und schriftliche Zeugnisse, Fotos und Dokumente hat Crasemann allerdings im Vorfeld aussortiert und der Galerie Susanne Zander in Köln angeboten. Die hat diesen Nachlass im Januar 2013 erworben und wird ihn archivieren.
Atmo 10: Gardinen werden aufgerissen, Fenster geöffnet
Sprecherin: Jetzt ist alles weg.
Kapielski: Die Wohnung hat der Alleinerbe Crasemann aufgelöst. Manche Dinge gingen an die Stadtklause, ein Lokal in dem Bruno viel Zeit mit Franz-Josef Göbel, dem Inhaber, verbrachte. Der hatte Bruno wenige Jahre vor seinem Tod zu einer Zusatzrente der Berliner Entschädigungsbehörde für die Zeit in den Nazi-Anstalten verholfen. Heute gibt es eine Art Gedenkraum in seinem Lokal.
Sprecherin: Ich war auf dem Schöneberger Friedhof und habe ewig nach Brunos Grab gesucht. Der hat bis jetzt nicht einmal einen Gedenkstein!
Kapielski: Eigentlich hatte er verfügt, seinen Körper der Wissenschaft zu übergeben. Man hat ihn aber zu spät gefunden. Brunos Instrumente sind größtenteils verloren. Aber
Jan Ralske 05a-e: Das ist das schöne bei jemandem wie Bruno, der lebt weiter in deinem Kopf. Wenn ich jetzt so mit ihm denke. Das ist eine besonders schöne Sache ihn gekannt zu haben. Ich vermisse ihn.
Frank 03: Dass wir das sehen durften, dass wir dabei sein durften, dass er uns da mitgenommen hat, das ist Freundschaft.
Miron Zownir 06a-f: Ich vermisse seine Stimme, ich vermisse seine Ehrlichkeit, ich vermisse seine Poesie, ich vermisse seine Streitlust.
Richard Schütz 06a,b: Er hatte ja seinen Kreis von Freunden, praktisch seine Wahlverwandtschaften. Wir waren eigentlich seine Ersatzfamilie und zu diesem wir haben eben schon als seiner frühesten und ältesten und längsten Freundschaften hat eben Klaus Theuerkauf gehört.
Klaus Theuerkauf: Ich weiß nicht. Bei mir liefen halt unheimlich viele Drähte zusammen. Und über mich hat er halt wieder unheimlich viele Leute kennen gelernt quasi. Und Bruno war je älter der wurde, desto größer wurde der Bekanntenkreis. So kam es mir vor.
Richard Schütz 07a,b: Ja, so wie glaub ich für ihn Wahlverwandtschaft war, so gehört er auch zu meiner Familie. Also, das Trauma von seiner Mutter verstoßen zu sein, das Trauma in den Heimen inhaftiert zu sein, das Trauma, das man ihn wie ein Tier behandelt hat in den Psychiatrien, dass er für verrückt und als Idiot eingestuft wurde und so behandelt wurde, dass hat er aufgearbeitet.
Sprecherin: Als ich Mensch wurde, musste ich sterben.
Kapielski: Bruno?!
Sprecherin: Ja.
Musik: Klavier „Forelle“


Bruno S.: Sie sollen glücklich werden. Werdet glücklich, aber nicht unglücklich! Werdet glücklich, aber nicht unglücklich!“



Kapielski Absage: Als ich Mensch wurde, musste ich sterben. …
Wir bedanken uns herzlich bei seinen Förderern und Freunden: Klaus Theuerkauf, Richard Schütz, Jan Ralske, Frieder Butzmann, Frank E. Marcks, Franz-Josef Göbel, Martin Wiebel, Lutz Eisholz, Lith Bahlmann, Thomas Crasemann, Ulla Biermann, Jürgen Borchers, Susanne Zander, Matthias Reichelt und dem Oberkreuzberger Nasenflötenorchester. „Ihr seid in Ordnung.“

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Feature: "Die Kreuze hinter den Namen"
Ein Radio-Feature von krausedoku Gesprächspartner: Erik Steffen, schreibt seit 2 Jahren Nachrufe für den Tagesspiegel Seine Heldinnen und Helden findet er in Berlin – Kreuzberg, jenseits der Kameras und Mikrofone der großen medialen Öffentlichkeit. Dennoch zeigt Erik Steffen auf, dass es natürlich auch abseits der „Normalität“ verschiedenste Szenen gibt, die ihre Heldenfiguren erschaffen, oft auf ganz ähnliche Weise – manchmal allerdings auch auf bis dahin unbeschrittenen Wegen. Musik und Lyrik: Scardanelli (Text) und Al Chem (Musik): Atlas des Todes, unveröffentlicht, Ausschnitte Feedback Orchester

Transkript:
Musik: Al Chem Erik Steffen: Ob ich an Toten mehr interessiert bin als an Lebenden? Es ist halt grad Konjunktur. vorm Winter, nach dem Winter Als wenn man nach den Kreuzen hinter den Namen sucht, dass hat mich sehr stark beschäftigt. Sagen wir mal so Hungerkünstler per se ist für mich schon heldenhaft - und das sind alle. Moderation: Erik Steffen schreibt seit 2 Jahren Nachrufe für den Tagesspiegel in Berlin. Er lebt in Kreuzberg, so wie die meisten der Verstorbenen, die er beleuchtet, denen er einen Textabschied widmet. Menschen, deren Heldendunst eher unscheinbar durch die Gesellschaft flimmert. Deren Verschwinden jedoch tiefe Lücken hinterlässt. Erik Steffen: Warum schreibt man Nachrufe? Weil die Menschen halt weit vor der Zeit sterben. Es geht ja im Wesentlichen darum, das Persönlichkeitsbild eines Menschen zu beschreiben, der den Lesern unbekannt ist und trotzdem zu sagen , o.k., der hat nicht nur gelebt, der hat auch irgendwas bewegt in irgendeiner Form oder hat Spuren hinterlassen, das ist eigentlich, was mich besonders interessiert. Da müssen jetzt keine Platten oder Bücher sein. Das kann auch aus dem Umfeld sein, was man eben nicht vergisst, auch wenn derjenige dann längst im Urnengrab verschwunden ist. …, das ist mir eben erst aufgefallen, als ich da an einem Plakat vorbei kam, das ich dann ganz sinnfällig fand als Titel: Jeder Tag ohne Verschwendung ist Vergeudung. Es geht um Lebensmodelle, die sehr viel powern, irgendwas reingepackt haben, in Musik, in Leben überhaupt, in Erfahrungsgewinn, in Beziehungen, in was auch immer und sehr wenig davon zurück bekommen haben. Also, das sind schon Modelle der Unbefriedigung, Modelle der Vergeudung, der Verschwendung, Depressionsmodelle sicherlich auch, Modelle des Antierfolges letztendlich. Es geht eigentlich um das klassische Phänomen der Außenseiter … Das dass aber trotzdem für mich eine Aussagefähigkeit hat, über das was Gesellschaft "belohnt" oder zulässt, ist ganz klar. Grundproblem bleibt natürlich in der medialen Landschaft für diese Art von Menschen gibt es wenig Raum. Atmo: Sonic Youth – Drunken Butterfly/ Kirchenglocke Nachruflesung (Auszüge): Guido Schöpper aka Spoon Guido Schöpper (Geb. 1961) „Mehr als passieren kann ja nix!“ Flaschen fliegen, jemand bricht zusammen. Die Musik setzt aus. Der Barkeeper einer kleinen Kreuzberger Szenebar steht auf einem Stuhl und beschwört die Gäste: „Spoon hätte das nicht gewollt!“ Er erntet ironischen Beifall. Das Kondelenztrinken für Guido, der sich in Berlin nur Spoon nannte, nimmt einen chaotischen Verlauf. Dem Toten hätte das gefallen, da sind sie sicher, die alten Freunde, die Künstler, die Überlebenden. Sie trauern um einen Menschen, der so jenseits der Normen und Verhaltensmuster lebte, dass er schon Legende war, als er noch lebte. Geliebt und gehasst! Sein plötzlicher Tod überrascht hier nur wenige. (Musik: Feedback Orchester) Im West-Berlin der Achtziger greift er an. Hier heißt der Untergrund „Berliner Krankheit“, ein hedonistisches, von düsterer Musik beseeltes Szenario aus Kneipen, Clubs und Proberäumen. Seine erste Band heißt „Knochengirl“, es folgen „Kiss Freak Steven“, „Feedback Orchester“ und „Hagel“. Er spielt Gitarre, Bass und Schlagzeug. Die Normalität ist längst uninteressant. Er macht Musik vom anderen Stern, wild , kraftvoll, verstörend. Eine Säule jeder Band. Umjubelte Auftritte, Platten, Underground-Star. Er lebt am Limit. In jeder Hinsicht. Überlebt vieles, was andere in den Abgrund gerissen hätte. Gilt bei Fremden als Troublemaker und unberechenbarer Psychopath. Seine Freunde hauen ihn raus, nennen seine Auftritte theatralisch, wissen um die Verzweiflung dieses Menschen. Wer sich an die Achtziger erinnert, hat sie nicht erlebt, so heißt es. Ende der Neunziger verengt sich auch Spoons Leben. Er haust in einer amtlich dunklen Parterrewohnung, wird depressiv. Nur die Musik zieht ihn aus der Dunkelheit. 1998 dann der erste Crash. Ein Herzinfarkt in einer Kneipe. Er schleppt sich nach Hause, wird ins Krankenhaus gebracht. Danach wird alles scheinbar ruhiger. Er zieht sich zurück, die Exzesse sind Ausnahmen. Erfolgreiche Ausstellungen seiner Zeichnungen und der Konzertwirbel, den das experimentelle „Feedback Orchester“ anrichtet, füttern sein Ego. Stimmungsschwankungen ja, aber sie richten sich nicht mehr als Aggression nach außen. Dann der zweite Herzinfarkt, zu Hause. Spoon ruft den Notarzt, aber schafft es nicht mehr zur Tür. Als die Feuerwehr eintrifft, ist es zu spät. Die Reanimation vergeblich. „Er wollte nicht mehr zurück“, sagt der Arzt. Wer weiß. Erik Steffen, Tagesspeigel 26.02.2010 Erik Steffen: Was sich hier in den einzelnen Biografien zeigt, ist ja eher ein extremer Individualismus, zugespitzt auch fast bis zur Egomanie. Das ist sicherlich auch nicht ganz einfach zu vergleichen. Also ich würde mich doch ein bisschen schwer tun, zu sagen, dass sind Helden im klassischen Sinne. Weil die Leistung, die Lebensleistung in einer bestimmten Form, ist ja ne ganz andere, die gar nicht vergleichbar ist mit der Realleistung von Menschen die Helden des Alltags sind. Was das Besondere ausmacht ist ja oft die Disparatheit und die völlige Verschiedenheit der Projekte, der Äußerungen, der Aktionen, die ja nur als Ganzes irgendwie auf eine einzelne Person Rückschlüsse zulassen, aber das steht oft auch im internen Konflikt, also im internen Gegensatz. Da sind viele Leben quasi gebündelt, oder viele Lebensäußerungen, die so verschieden sind, dass ich denke, das müssten ja eigentlich Multiple Persönlichkeiten sein, aber zusammengehalten wird´s dann doch durch einen Körper. Und dieser Körper ist dann sehr früh oft überfordert damit. Moderation: Erik S. beschäftigt seit mindestens 30 Jahren mit Biografien. Anfangs waren es vor allem Dichterbiografien, die bedingt von Krieg, Verausgabung oder Drogen, deren Werke so gezwungenermaßen frühvollendet wurden oder fragmentarisch blieben. Er nennt Rimbaud, … Erik Steffen: Wie wird man in X-berg zum Star einer kleinen, überschaubaren Szene? … Man gewinnt durch eine gewisse Präsenz in öffentlichen Räumen oder anderswo Vorbildfunktion. Vorbildfunktion in der Form, dass man härter und radikaler seinen Weg geht als die Masse das normalerweise wünscht oder wagt. Vorbildfunktion natürlich auch, indem man Reibungen sucht, musikalischer Art oder auch sozialer Art. Auf der anderen Seite ist es natürlich eine Form von Expressivität die Normalsterbliche weit überfordert. ... Man gewinnt durch soziale Interaktion, die Regelverstöße sind, natürlich einen gewissen Ruf und Nimbus, der einen Nachrufschreiber wie mich anzieht. (Musik: Feedback Orchester) Ich denke, die Heldenwahrnehmung in der Subkulturellen Szene ist ja quasi das Passepartout zu der offiziellen Heldenwahrnehmung, eben auch durch Taten, Aktionen und Äußerungen. Und die Negation des klassischen Heldenbegriffs der große Taten, große Werke oder ähnliches hinterlässt funktioniert in der Umkehrung natürlich genauso. Es sind dann kleine Taten und kleine Wirkungen, die man entfaltet und die trotzdem bestimmten Milieus genügen, um einen Heldenmythos zu basteln. Man muss trotzdem bei aller kritischen Sicht auch auf diese Wege sehen: es ist etwas hinterlassen worden, was für Zeiten für sehr viele Menschen aus einem bestimmten Milieu halt auch bewegt und auch bestärkt hat in ihren eigenen Weg das Leben zu bewältigen in irgendeiner Form. Es sind ja auch sinnliche Eindrücke hinterlassen worden, für die andere vielleicht gar nicht für prädestiniert gewesen wären, wenn es nicht genau diese Menschen gegeben hätte. ... Nur wenige sind in der Lage gewesen, wie Spoon, quer durch alle musikalisch Stile und Genres Spuren zu hinterlassen und soviel Sachen auch anzuschieben. Das war ein Tausendsassa, so wie das Beate im Galerie- und Kunstbetrieb war. Im Alternativen natürlich. Musik: Ton Steine Scherben: Halt Dich an deiner Liebe fest Nachruflesung (Auszüge): Beate Horner Beate Horner (Geb. 1952) Halt dich an deiner Liebe fest!“ – Als Rudi Rallala auf der Beerdigung den Ton-Steine-Scherben-Song sang, rückten die hundert Trauergäste enger zusammen. Freaks, Alkoholiker, Arbeitslose, Künstler. Vor allem solche, die es sein wollen und niemals sein werden. Mit Beate, für Freunde „Hörnchen“, war wieder jemand aus ihrer Mitte vor der Zeit gegangen. Leberzirrhose. Geburtstage absolviert man genauso häufig wie Beerdigungen, 60 Jahre alt werden aus diesem Milieu nur wenige. Beate also, geboren und aufgewachsen in Stockstadt am Rhein, das sie Stocksteif nannte. West-Berlin erschien als Ort der Träume. Mitte der siebziger Jahre zog sie nach Kreuzberg, das sie nie mehr verlassen sollte. 20 Jahre arbeitete sie mit Schwerstbehinderte. Ein auszehrender Job. Der Alkohol wurde ihr Stressbekämpfer. Dann 1995 die Diagnose Brustkrebs. Ihre Panikreaktion: Totalamputation. Klaglos kämpfte sie sich in ein anderes Leben, denn das Berufsleben war vorbei. Sie wog bei 165 cm Körpergröße weniger als 45 kg. Aber in ihrem zerbrechlichen Körper steckte eine unglaubliche Energie. Geld spielte keine Rolle für sie, auch nicht, als keins mehr da war. Dann eben Billigzigaretten und Weißwein aus dem Tetra-Pak. Ihre Wohnung und ihre Galerien wurden zu Sammelbecken Kreuzberger Randexistenzen, aus der Kreuzberger Alternativkultur war sie nicht wegzudenken. Für ihre Projekte konnte sie viele mitreißen und vereinnahmen. Dafür nannte man sie „Frau Zack Zack“ oder „Frau Schnell Schnell“. Dass das fast alles ehrenamtlich geschah, dass hin und wieder sogar draufzuzahlen war, versteht sich von selbst. So schnell, wie sie gelebt hat, ist sie auch gestorben. Gerhild, eine Freundin, war bei ihr. Beate wollte zu Hause sterben, niemandem zur Last fallen. Sie bat als letztes um ein Bier, Bier hatte sie seit Jahren nicht getrunken. Die Sargträger hatten eine leichte Last. Erik Steffen, Tagesspiegel 22.08.2008 00:00 Uhr Erik Steffen: Held oder Antiheld, das ist jetzt eine schwierige Definition. Es kommt ja auch auf den Blickwinkel von innerhalb der Gesellschaft an. Aber es sind sicherlich Formen von Lebensverwirklichung oder Versuche von Lebensverwirklichung hier muss man halt mit ganz anderen Maßstäben rechnen als es sonst der Fall ist. Ich kann ja hier nicht von Platten, Bücher als Hinterlassenschaften bezeichnen würde, haben wir hier ja´ne Verbreitung, die weniger als eine Nächstengesellschaft ist. Das ist ja oft der erweiterte Freundeskreis, das sind ja keine Wirkungen im eigentlichen Sinne. Es geht ja sehr stark um Verwirklichung von Sachen, die vorher noch gar nicht vorgefestigt sind. Damit haben sie natürlich eine Form von Erfahrung, die ja nie einen ökonomischen Gegenwert haben, sind sie angreifbar. Armut gehört einfach mit zum Geschäft, wird aber ignoriert und ich glaube, dass man bei den Einzelnen gar nicht sagen kann, wo der Punkt ist, warum die immer so weiter machen. Moderation: Es waren Menschen, die zuvor selten oder nie in der medialen Öffentlichkeit standen. Frauen und Männer, Kreuzberger Typen, d.h. meist Zugezogene, Lebenskünstler, Paradiesvögel mit gebrochenen Biografien, deren Lebenswege berühren und oftmals wehtun. Erik Steffen: Ich schreibe nicht für den engeren Kreis der Trauernden, die haben alle ihre eigene Trauer und ihre eigene Wahrnehmung. Ich will Menschen, die meine Nachrufe lesen, in irgendeiner Form näher bringen, dass es noch ein anderes Leben außer dem Leben gibt, wo man eine Zeitung aufschlägt und Kaffee trinkt. Also ich will schon verstören mit den Nachrufen. Dass man vielleicht denkt, oh, sowas gibt’s auch. Natürlich ist die klassische Reaktion: sieht man nicht, klar, ist doch gescheitert. , aber im Ganzen will ich schon eine Wirkung erreichen, wo man denkt: oh, es gibt noch was ganz anderes und vielleicht war es doch schön. Sonst könnte man auch darüber hinweg gehen und sagen, o.k. noch ein Depressionsmanifest. Das muss ja nicht sein. Und es stimmt ja auch nicht. Jeder Einzelne findet in seinem Leben ja auch, wenigstens kurzzeitige Momente von Glück oder Erfüllung oder Akzeptanz oder Anerkennung oder Wärme, Liebe, so das Übliche. Nur Geld zählt meistens halt nicht dazu. Moderation: Erik Steffen zeigt, dass sich jede Szene, jede Subkultur ihre Helden und Heldinnen erschafft, die jenseits der Kameras und Mikrofone Geschichte schreiben. Ob Held oder Antiheld ist nur eine Frage der Perspektive. Erik Steffen: Das ist für mich eine schriftstellerische Art und Weise mit Text und Erinnerung umzugehen. …In Kreuzberg kenne ich jedes Kneipenklo. Und das ist ja auch was ganz wichtiges. Oder ich kenne fast jeden Kneipenwirt und kann mir schon vorstellen, wenn sich Person XY da und da bewegt hat, wie sich das anfühlt, wie das riecht und was man da erlebt. Das würde in Charlottenburg halt unmöglich sein. D.h. nicht dass ich nicht auch über jemanden schreiebn würde, der ungewöhnlich in Charlottenburg oder Wilmersdorf gelebt hat, aber da fehlt mir einfach das Wissen um das Wie. Das kann ich sinnlich nicht nachempfinden. weil diese Form der nachrufe schon, egal welcher Fall das jetzt ist, nicht nur meine Wortwahl widerspiegelt, sondern eigentlich da auch Herzblut drinsteckt. Also das ist für mich auch schon eine persönliche Form mit Verlusten, ob sei nun nahe stehen oder näher stehen und oder weiter weg sind, mit Menschen umzugehen, die ich als ganz wesentlich, als Teilmenge unserer Gesellschaft halte und die ich in irgendeiner Form irgendwie sympathisierend gegenüberstehe. Das ist einfach so. O-Ton: Scardanelli/ Al Chem aus: Der Atlas des Todes Erik Steffen: Also, wenn man das zugespitzt sagen würde, wieweit ist das Gift der Nachrufe, weil es ja auch eine Beschäftigung mit Tod und dem ganzen Drumherum ist, ein Lebensgefühl, eine Lebenswahrnehmung. Das könnte ich gar nicht beschreiben. Also mein Leben hat sich jetzt nicht wirklich verändert, …, aber ich empfinde es, dass ist jetzt vielleicht eine positive Konstruktion, als ne Art Befreiung, als ein Antiserum. Sich mit Tod zu beschäftigen, über Tod zu schreiben ist für mich ne Entlastung, sich mit dem eigenen Tod zu beschäftigen. Ist ja ein fremdes Leben, fremder Tod. Vielleicht ist es eine Ablenkung, aber manche Sachen, manche Gedanken, die ich früher in destruktiven Phasen oder depressiven Phasen hatte, die tauchen jetzt so gar nicht mehr auf. Es gibt verschiedene Schreibweisen auch. und es gibt auch so ne "journalistische" ethische, neutrale und das wäre für mich nie in Frage gekommen. Das würde sich auch bei dem Zugang zu den Personen gar nicht anbieten. Also alles abklopfen und dann auch so schreiben als wenn es überhaupt keinem weh tun muss. Also ich verstehe die Nachrufe auch eher so - das kann dann auch mal richtig reinhauen. Ein Nachruf ist halt auch ´ne letzte Spur. Das ist, wie gesagt, ein schmaler Grat und jeder Nachruf ist dann auch ´ne eigene Erfahrung – für mich auch. Musik: The Stanley Brothers „Oh Death“
Dauer

15:34 Minuten

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Feature: "Bruno S. - Als ich Mensch wurde musste ich sterben"
Nächster Sendetermin: 15.2. WDR5

Link zum Nachhören: http://www.ardmediathek.de/swr2/swr2-feature?documentId=15107106

Von Annett Krause und Matthias Hilke | 2010 fand man Bruno S. in seiner Berliner Wohnung tot am Flügel sitzend. Er war 68 Jahre alt, hatte seinen Nachnamen halbwegs erfolgreich geheim gehalten und 23 Jahre in Heimen und sogenannten Besserungsanstalten verbracht. Dann wurde er Musiker und Filmstar.

Vor drei Jahren fand man Bruno S. in seiner Berliner Wohnung tot am Flügel sitzend. Seine Instrumente waren ihm Freund und Familie, denn 23 Jahre verbrachte er - auch während der Nazi-Herrschaft - in der Isolation von Heimen und Psychiatrien.

Erst 1958 "geht der Bruno in Freiheit", wird Gabelstaplerfahrer und zieht als Moritatensänger über Berlins Hinterhöfe. Er spiegelte sich in diesen Schauerballaden und will ihre "Wahrheit mobil machen". Seine Tiefe und Tragik ist so beeindruckend, dass ihn Werner Herzog als "Kaspar Hauser" engagiert. Sie gewinnen die Goldene Palme in Cannes. Doch den Menschen traute Bruno lange Zeit "nur soweit wie ein Schwein scheißen tut".

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Manuskript "Berufung ohne Beruf - Requiem auf einen Traum"
Dieses Feature wurde 2012 auf SWR2 erstmals ausgestrahlt. Hier gibt es das Manuskript zum Nachlesen.


SWR 2
Redaktion Hörspiel und Feature
Wolfram Wessels



Manuskript


Berufung ohne Beruf.
Requiem auf einen Traum.

Eine radiophone Dokumentation von Annett Krause und Matthias Hilke

2012
54 min

Realisation:
Wolfram Wessels, Matthias Hilke, Annett Krause

Sprecher und Sprecherinnen:
Katharina Zapatka, Sebastian Mirow, Karl-Rudolf Menke uns Andreas Serdar

Ton und Technik:
Johanna Fegert und Bettina Krol



Musik: Dawn (Cinematic Orchestra); liegt unter folgender Einleitung und endet vor der Anmoderation

Michael Bahn: Wir haben uns ja tatsächlich vorgenommen, nicht zu jammern. Jedes Mal. Und jedes Mal erschien am Ende ein Bericht, in dem der Fokus darauf gelegt wurde, wie schlecht es uns geht, wie arm wir dran sind und dass doch etwas passieren müsse. Dass wir aber gerade dabei sind etwas zu tun, das fiel irgendwie immer hinten unter.

Sprecher: „Unterschicht mit Doktortitel“, „Intelligenz in Deutschland verhungert“

Michael Bahn: Und dann war man plötzlich „Dr. Pleite“, „Schlau aber arm“ oder ein „Tagelöhner in der Wissenschaft“.

Sprecher: „Exzellente Lehre zu Dumpingpreisen“, „Ausbeutung im Dienst der Wissenschaft“

Sabine Volk: Also ich durfte z.B. in den seltensten Fällen irgendwelche sachlichen Fragen beantworten. Ich wurde immer sehr intensiv gefragt, wie ich mich denn fühle.

Sprecher: „Betteldozenten“, „Prekarisierung der Wissenschaft“

Dirk Linck: Ich mache das solange ich irgendwie an dieser Institution damit durchkomme. Und ich bin selber überrascht, dass es zwanzig Jahre geklappt hat.

Sprecher: „Lehre zum Spottpreis“, „Die Billigheimer der Wissenschaft“

Elisabeth Meyer-Renschhausen: Weil als Intellektuelle oder als der Wissenschaft sich verschrieben Habende wollen sie ja gar nicht so sehr viel Geld, also sie kommen schon mit ein bisschen Weniger aus. Sie gehören nicht zu dem szs. Geldbürgertum, ja.

Sprecher: „Unisklaven – vereinigt euch!“

Sabine Volk: Es geht aber auch gar nicht darum, „Dr. Pleite“ zu sein oder über „Dr. Pleites“ zu berichten, sondern die ganze Problematik, die Gesamtproblematik in der Bildung aufzudecken.

Atmo: Musik aus, automatische Tür öffnet sich


Ansage
Sprecher: Berufung ohne Beruf. Requiem auf einen Traum. Eine radiophone Dokumentation von Annett Krause und Matthias Hilke

Atmo: Unigeräusche: Türen, Schritte, Stimmen, folgendem O-Ton unterlegt

Sprecher :
Kapitel 1: Introitus -Wir sind gekommen, um zu bleiben

O-Ton Heidegger: „Was heißt Denken? Wir gelangen in das, was Denken heißt, wenn wir selber denken. Damit ein solcher Versuch glückt, müssen wir bereit sein, das Denken zu lernen.“

Atmo: Klopfen auf Tische im Seminar

Sprecher: 2008 rief die Bundeskanzlerin Deutschland zur Bildungsrepublik aus. Die Bolognareform, Exzellenzinitiativen, Preise für exzellente Lehre, Eliteuniversitäten, Graduiertenschulen, Juniorprofessur und Novellen verändern seit Beginn des neuen Jahrtausends das deutsche Hochschulwesen. Exzellenz und geistige Elite wohin das Auge blickt – so möchte man meinen. Hochqualifizierte sind gefragt und gelten als deutscher Exportschlager. Bildung also, die wertvollste Ressource Deutschlands. Hergestellt in den Universitäten und Hochschulen.

In einer dieser Denkfabriken, der Humboldt Uni zu Berlin, ging ich 2011 die Treppe hinauf. Jede der 56 Treppenstufen war mit dem Hinweis „Vorsicht Stufe“ versehen. Eine Kunstaktion erfahre ich. Was immer die Künstlerin sagen wollte, ich stellte mir vor, dass so mancher Dozent, der diese Stufen tagtäglich erklimmt, an den risikoreichen, ja gefährlichen Weg erinnert wird, den er mit seiner angestrebten Karriere verfolgt.

Atmo: Kita

Sabine Volk:
Sabine Volk: Sing doch mal!
Sabines Tochter singt: Stups, der kleine Osterhase fällt andauernd auf die Nase…
Sabine Volk singt: ganz egal wohin er lief
Sabines Tochter singt: immer ging ihm etwas schief.
Sabine Volk: Was mache ich als Beruf? Weißt Du es noch?
Sabines Tochter: Weiß ich gar nicht.
Sabine Volk Bin ich vielleicht eine Lehrerin?
Sabines Tochter: Nein.
Sabine Volk Sondern, was bin ich? (Flüstert): Dozentin.
Sabines Tochter: Dozentin.

Sabine Volk: Ich habe eine dreieinhalb jährige Tochter. Ich bin Doktorandin kurz vorm Abschluss meiner Promotion.
Ich komme aus einem Elternhaus, das prädestiniert dafür ist eine Akademikerin hervorzubringen. Meine Eltern sind beide Lehrer, verbeamtete Grund- und Hauptschullehrer in Bayern. Auch mein Großvater war Grundschullehrer. Ja, das Lehren liegt szs. in der Familie. Deswegen wollte ich auch auf keinen Fall Lehrerin werden (lacht).
Ja, ich habe in München, Heidelberg, Straßburg, Potsdam und Berlin studiert.
Ich habe ja insgesamt 5 Kurzzeitstipendien erhalten. Zuletzt wurde ich auch noch Junior Teaching Professional an der Uni Potsdam. Das ist ein Programm, das die Uni gestartet hat, nachdem sie den Preis für Exzellenz in der Lehre gewonnen hat. Insofern bin ich schon fast zertifizierte Lehrende.

Sprecher: Sabine Volk. Geboren 1979. Ihr Magisterstudium der Politikwissenschaft, Germanistik und Psychologie hat sie vor 6 Jahren mit 1,0 abgeschlossen.

Atmo: Schritte, Treppe rauf

Michael Bahn: Also ich bin groß geworden in einem Elternhaus im Ostteil Berlins.

Sprecher: Michael Bahn ist Jahrgang 1981. Er hat sechs Jahre Literaturwissenschaft, Linguistik und Religionswissenschaft an der Uni Potsdam studiert.

Michael Bahn: Ich habe einen Abschluss mit Auszeichnung.

Sprecher: Seit 2009 ist er Promotionsstudent in Potsdam. Er hat zusammen mit Sabine Volk die Initiative gegründet, die sich mittlerweile für Rechte von Lehrbeauftragten an Universitäten in ganz Deutschland einsetzt. Sie nennen sich Intelligenzija Potsdam.

Michael Bahn: Also, für mich ist ganz klar, ich schließe meine Promotion ab. Ich würde sehr gern weiterhin lehren.

Atmo: Schritte, Treppe rauf

Dirck Linck: Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, in der das nicht üblich war, höhere Schulabschlüsse zu machen, und habe dann geglaubt wie alle in meiner Familie, dass man dann irgendwann arbeiten muss und habe dann angefangen als Justizbeamter eine Ausbildung zu machen. Habe da dann nach wenigen Wochen gewusst, dass das nicht meine Zukunft ist, habe aber auch gewusst, das diese Beamtenausbildung recht gut bezahlt ist und habe das dann ein Jahr lang gemacht, um nachzudenken, was ich eigentlich machen will und habe mich dann entschieden, dass zu nehmen, was am weitesten entfernt ist a) von der Welt, aus der ich gekommen bin, also einer relativ hart körperlich arbeitenden Arbeiterwelt und gleichzeitig weit weg von diesem Beamtenunwesen, das ich als Justizbeamter erfahren habe. Und da schien mir die Kombination Literaturwissenschaft und Geschichte relativ ideal zu sein.

Sprecher: Dr. Dirck Linck wurde 1969 in Hannover geboren. Er studierte von 1983 bis 1989 Literaturwissenschaft und Neuere Geschichte an den Universitäten Hamburg und Hannover. Seinen Doktor hat er 1992 gemacht und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt Universität Berlin.

Atmo: Schritte, Treppe rauf

Rahel Jaeggi: Also ich habe angefangen zu studieren, habe nach dem Grundstudium eine Tutorenstelle gekriegt, also so eine Tutorenhilfskraftstelle, habe dann auch mehr oder weniger aufgehört zu jobben nebenbei, also ich habe ja auch ein bisschen später angefangen zu studieren, weil ich das Abitur nachgemacht habe. … Also ich hatte die Stelle, dann bis zum Ende des Studiums. Dann gab’s mal eine ganz kurze Zwischenzeit und ab dann hatte ich während der Promotion eine wissenschaftliche Mitarbeiterinnenstelle, nach der Promotion oder nach diesen ersten 5 Jahren hatte ich ein paar Monate in der Schweiz, dann war ich ein Jahr in den USA und habe da unterrichtet, kam zurück und hatte die nächste Stelle, also die Habilitation- also die Assistentenstelle.

Sprecher: Rahel Jaeggi ist Anfang Vierzig. Sie hat Praktische Philosophie an der FU Berlin studiert, promovierte 2002 und habilitierte 2009 in Frankfurt/Main. Sie ist verheiratet, hat einen Sohn, lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet an der HU.

Atmo: Schritte, Treppe rauf

Sprecher: Frau Dr. habil. Elisabeth Meyer Renschhausen ist Privatdozentin. Sie studierte Sozialwissenschaften, Geographie, Politologie und Germanistik in Marburg und Bremen. Sie promovierte 1989.

Elisabeth Meyer-Renschhausen: Und dann wurde in der Zeit, bspw. im Bereich der Frauen, wurden wir aufgefordert, wir sollten doch bitteschön habilitieren, weil es würden ja demnächst so viele Stellen frei, da würden wir ja alle zweifelsohne Stellen bekommen. Das war noch Anfang der 90er.

Sprecher: Sie habilitierte schließlich 1998 im Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sie ist im Besitz des höchsten Abschlusses, den man in Deutschland im akademischen Bereich erreichen kann. Sie versteht sich als freischaffende Wissenschaftlerin und Journalistin und ist Mitglied der Initiative Berliner Privatdozenten. Einen Lehrstuhl hat sie nicht.

Musik: Cinematic Orchestra „Colours“


Sprecher:
Kapitel 2: Kyrie - Warum wir das machen

O-Ton Horckheimer: Dieser Mensch aber wird beeinflusst von der Struktur der Gesellschaft, in der er lebt, die eine Tendenz hat, nämlich seine psychischen Energien so zu gestalten, dass der Mensch das gerne tut, was er tun muss, damit diese Gesellschaft in ihrer speziellen Form existieren kann.

Sprecher: So unterschiedlich die Herkunft und die Beweggründe, so unterschiedlich die Grade der Qualifikation auch sein mögen, wer an der Uni Karriere machen will, wird die Professur anstreben. Denn nur die Professur eröffnet die Möglichkeit einer Festanstellung, Sicherheit und adäquater Entlohnung. Der Lehrstuhl ist der einzige sichere Stuhl im Lehr- und Forschungsbetrieb einer Universität.
Dennoch lockt die meisten nicht nur die Aussicht auf Geld und Sicherheit. Vielmehr folgen sie mit ihrer Karriere einem Traum, für dessen Erfüllung sie gewillt sind, alles zu geben.

Matthias Neis: Die Arbeit ist eben nicht nur belastend, sondern auch unheimlich sinnstiftend und unheimlich befriedigend, in ‘ner gewissen Weise, gleichzeitig. Aber entweder sie sagen: „Im Moment geht’s noch und irgendwann geht’s mir besser" oder dass sie halt sagen, "ja aber, die Sache gibt mir halt so unheimlich viel und ich will das jetzt. Ich will das jetzt!"

Sprecher: sagt Matthias Neis von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.

Michael Bahn: Ich wusste, ich liebe die Literatur, ich bin mit der Literatur groß geworden, also studiere ich sie.

Atmo: Buch wird aufgeschlagen

Dirck Linck: Also da soll man nicht rumlügen, das ist schon ein Gefühl von Stolz. Wenn die gesamte Verwandtschaft hoch beeindruckt ist, weil es noch nie einen Doktor in der Familie gegeben hat. Ich habe unverzeihliche Dinge in den ersten Monaten getan, als ich promoviert war. Ich habe den Doktor glaube, wurde er ans Klingelschild gemacht oder ich habe zumindest nicht verhindert, dass die Hausbesitzer es getan haben, als sie davon erfuhren. Also all diese eigentlich ganz, ganz, ganz schäbigen Dinge des Stolzes, aber da würde ich lügen, wenn ich nicht sagen würde, nicht eingestehen würde, dass ich das auch hatte. Das waren dann vier wahnsinnig harte Monate, weil ich eben geschlampt hatte. Ich wurde dann von Freunden durch das Fenster ernährt. Ich kriegte dann täglich, ich wohnte Parterre, mein Essen rein gereicht und habe dann 16, 17 Stunden täglich wirklich an dieser Diss. gesessen. Und als die dann abgegeben war und ganz gut benotet war und auch das Zweitgutachten gut war, na klar, da war ich schon stolz und hatte das Gefühl, dass ich etwas geleistet habe. Tja, da war ich stolz.

Atmo: Buchseiten blättern

Rahel Jaeggi: Ich habe, das weiß ich ziemlich genau, die erste Seite geschrieben, als mein Mann den ersten Tag Erziehungsurlaub hatte, als unser Sohn gerade 10 Monate alt war. Und ich hatte mir vorgenommen, ab dem Moment geht’s jetzt wirklich an die Habilitation und ich habe es dann auch so gemacht. D.h. wie lange habe ich denn geschrieben? Ich habe geschrieben von 2006 bis 2009, na so drei Jahre. Aber das ich die überhaupt in relativ kurzer Zeit geschrieben habe, hing tatsächlich in meinem Fall damit zusammen, dass ich wusste, dass das für eine Bewerbung sehr sinnvoll wäre, habilitiert zu sein.

Atmo: Buchseiten blättern

Michael Bahn: Also, für mich kommt die Motivation weiter in diesem Bereich erst mal zu arbeiten ganz klar aus der Arbeit mit den Studierenden. Wenn ein Seminar gut läuft und man etwas zurück bekommt, wenn man einfach merkt, die entfachen jetzt ein Feuer. Die sind angeregt von dem Thema, das man sich vorher überlegt hat, das man eingereicht hat, das ja einen langen Prozess durchlaufen hat, bis man das irgendwie durchbekommen hat, das ist der entscheidende Moment, wo man weiß: Ja! Das gibt dir was. Davon zehrt man.

Sprecherin: Es braucht ein besonderes Interesse, um sich über Jahre mit der Erforschung eines bestimmten Spezialgebiets zu beschäftigen. Gerade im Bereich der Geisteswissenschaften ist das Sichtbarmachen der Relevanz oft schwierig. Es entsteht kein Produkt, das sich am Ende einfach und gewinnbringend vermarkten lässt. Vielen von ihnen geht es anscheinend nach wie vor um hehre Ziele, die unsere Kultur, unsere Gesellschaft betreffen.

Matthias Neis: Tja, Pierre Bourdieu hat das mal den wissenschaftlichen Habitus genannt. WissenschaftlerInnen sehen sich nicht als Arbeitnehmerinnen. Sie sehen sich als professionals würde man vielleicht sagen. Als Leute, die an der vordersten Front, an ‘ner gewissen Forschungsrichtung arbeiten und das, was die da bearbeiten, das lesen die anderen vielleicht in 5 Jahren in der Zeitung. Das ist eine Motivation, die mehrere Auswirkungen hat. Die erst Auswirkung ist das, dass man sich tatsächlich als privilegiert empfindet, als dass man sich als (lacht) ausgebeutet empfindet. Die zweite Auswirkung ist eine gewisse Individualisierung. Die Konkurrenz ist groß und auf meinem Gebiet gibt es vielleicht ne Hand voll von Leuten, die sich in ähnlicher Weise so auskennen wie ich. Auch ne gewisse Individualisierung. Und es führt gleichzeitig auch dazu, dass man halt ne intrinsische Motivation aufbaut. Die kommt also nicht von außen, also dadurch, dass ich hier Geld verdiene, leiste ich hier, sondern die kommt aus der Sache selbst.

Atmo: Buchseiten blättern

Olaf Jann: Das ist natürlich immer so eine gern gestellte Frage: Warum macht man das? Es sind eigentlich im Kern diese Leute, die über viele, viele Jahre dennoch dabei bleiben, sind eigentlich hoch motivierte Leute. Es sind gerade die Leute, die eben besonderes Interesse daran haben Lehre und Forschung zu machen.

Sprecher: Dr. Olaf Jann ist zurzeit Lehrbeauftragter für besondere Aufgaben an der Uni Siegen im Institut für Soziologie und gleichzeitig Lehrbeauftragter an der Uni Marburg. Er promovierte 2002.

Olaf Jann: Von außen bekommt man keine Motivation. Identitätsbildung über den Job funktioniert ja auch über Anerkennung. Anerkennung bekommt man im universitären Bereich auch ausgesprochen marginal, um nicht zu sagen, gar nicht.

Atmo: Buch wird zugeschlagen

Sprecher:
Kapitel 3: Tractus - Not macht erfinderisch

Atmo: Campus (Stimmengewirr, Lachen), Studenten strömen in eine Vorlesung, Atmo fließt in den Sprechertext ein

O-Ton Adorno: Mir will es so vorkommen, als ob das, was subjektiv dem Bewusstsein nach dem Menschen abhanden gekommen ist, die Fähigkeit ist, ganz einfach: das Ganze sich vorzustellen, als etwas, was völlig anders sein könnte.

Sprecherin: Mehr als 2,2 Millionen Studenten waren zu Beginn des Wintersemesters 2010/11 an 418 Hochschulen und Universitäten in Deutschland eingeschrieben. Die meisten Studienanfänger finden sich in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gefolgt von Ingenieurswissenschaften und Mathematik / Naturwissenschaften.
2010 gab es bundesweit 40 000 Professorenstellen, die forschen und lehren. An der Uni Potsdam bspw. ergibt sich so ein Verhältnis von 1:100, also 1 Professor für 100 Studenten. Die größte Gruppe von Angestellten unterhalb der Professuren sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie übernehmen den größten Teil der Lehre. Davon gibt es annähernd 150 000. Ihre Verträge laufen im Höchstfall drei Jahre. Allerdings ist die Lehre nicht ihr primäres Interesse. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Forschung, denn die meisten von ihnen arbeiten an einer Dissertation oder Habilitation. Weil die Hochschulen nach eigenen Aussagen finanziell nicht in der Lage sind, weitere befristete Stelle einzurichten, müssen neben Privatdozenten Lehrbeauftragte mithelfen, die grundständige Lehre abzudecken. Im Laufe der letzten zehn Jahre ist daher die Zahl der Lehrbeauftragten bundesweit um 40 Prozent gestiegen. Aktuell gibt es 77 000 Lehrbeauftragte an deutschen Hochschulen.
Sie alle haben Honorarverträge. Können diese die Basis für eine akademische Karriere sein?

Matthias Neis: Vielleicht fangen wir mal so an. Wenn man sich den berühmt gewordenen Vortrag "Wissenschaft als Beruf" mal anguckt, der 1918 glaube ich gehalten wurde, da heißt es dann ungefähr "wissenschaftliche Karriere ist ein wilder Hazard". Das ist Max Weber jetzt, ganz genau. Und wilder Hazard bedeutet ja nichts anderes, als dass es immer ungewiss ist, man muss Risiken eingehen. Man kann es sich eigentlich nur leisten, wenn man einerseits zu Entbehrungen bereit ist und andererseits den Hintergrund mitbringt, sozusagen, und wenn man das mit der Situation heute vergleicht, dann hat sich da gar nicht viel geändert.

Sprecherin: Sagt Dr. Matthias Neis von Ver.di.

Dirck Linck: Ich würde auch sagen, natürlich hat es an der Universität, hat es immer so bestimmte Erwartungen gegeben: Der junge Wissenschaftler muss häufig wechseln, muss seine Erfahrungen machen. Aber dies immer, und das ist der entscheidende Unterschied, vor dem Hintergrund einer ökonomischen Perspektive, die hieß, wenn er das brav macht und ein weitgehend Willfähriger ist, aber auch, wenn er was kann und da darf er sogar Momente des querköpfigen und eigensinnigen haben.
Wenn er das ein paar Jahre durchgehalten hat, dann hat er eine feste und stabile ökonomische Zukunft. Das gilt weder heute für den Rest der Bevölkerung noch für das akademische Prekariat.

Rahel Jaeggi: D.h. es ist schon so, dass bei uns - also in Deutschland - die Akademiker die Unsicherheit und so dieses Gefühl, dass es ganz lange noch sich entscheidet zwischen Hartz IV und W3 gewissermaßen. Das ist schon außergewöhnlich.

Sprecherin: Hartz IV Höchstsatz: 359 Euro. W3, die höchste Besoldungsstufe eines Lehrstuhlinhabers: 5280 Euro.

Rahel Jaeggi: Aber das ist auf jeden Fall eine Sache, die einfach für den akademischen Bereich sehr prägend ist und die Leute sehr lange in sehr großer lebensgeschichtlicher Unsicherheit schweben lässt. Und das ist natürlich nicht günstig.

Atmo: Uhr tickt

Olaf Jann: Nur Deutschland ist ein System, das sozusagen noch Reste dieser alten Ordinarienuniversität hat, die alles auf die Professur zuschreibt. Die sind verbeamtet. Eine relativ kleine Gruppe im deutschen Hochschulsystem ist verbeamtet und da drunter gibt es kaum Festangestellte.
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. 2% der Angestellten sind in Festangestellten-, in unbefristeten Verhältnissen. Alle anderen arbeiten irgendwie befristet über ganz kurze Zeit - ein halbes Jahr, ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre - in diesem System.

Atmo: Uhr tickt

Michael Bahn: Ich habe einen Abschluss mit Auszeichnung. Was mache ich? Ich bettele momentan überall, wo es geht, um Geld.
D-h- ich bettle und bettle und bettle um Geld, und wenn ich bei den Stiftungen nichts bekomme, dann gehe ich mit Ende 20, bald Anfang 30 zu meinen Eltern und muss dort um Geld bitten. Meine Eltern geben es gern und das, was sie irgendwie abknapsen können, das stecken sie mir auch zu, aber ich bin jetzt 28. Und das ist ... das zehrt! Das zehrt extrem an der Selbstachtung. Ganz, ganz stark. Da ist es dann tatsächlich soweit, dass ich sage, also bis August halte ich durch - das habe ich durchgerechnet – wenn ich da weniger esse und dort weniger kaufe und Theater und Kino, das brauchen wir gar nicht mehr drüber reden. Das gab´s schon nicht mehr seit Monaten. Irgendwie kriege ich das hin durchzuhalten und vielleicht kommt ja ein Antrag durch, der ja auch in zehn bis zwölf Wochen immer bearbeitet wird. Es ist ja nicht so, als würde das überall schnell gehen. Und dann sage ich, ja, und dann bin ich pleite, dann muss ich aufhören. Und dann muss ich mir eben was anderes suchen und dann sagt meine Mutter immer:"Nein! Wir ziehen das jetzt durch. Irgendwo kriegen wir das Geld schon her. mach dir da mal keinen Kopf!" Und das will ich nicht mehr! Ich will das nicht mehr mit Ende zwanzig, dass meine Mutter zu mir sagt: „Du schaffst das schon irgendwie. Ich helfe dir!"

Atmo: Uhr tickt schneller

Rahel Jaeggi: Im Grunde ist das eine überhaupt nicht zu akzeptierende Situation. Also, wenn man nachweisen kann, dass die grundständige Lehre und bestimmte Dinge, die angeboten werden müssen, damit die Studierenden überhaupt ihre Module erfüllen können, wenn das irgendwie zu großen Teilen auf den Schultern von prekär Beschäftigten. Also, das geht natürlich überhaupt nicht.

Atmo: Uhr tickt

Sabine Volk: Der Personalrat hat uns gesagt, in den letzten Jahren hat die Uni Potsdam Lehraufträge im Umfang von ca. 400-500 Lehrveranstaltungen zur Sicherung des Pflicht- bzw. Wahlpflichtangebots eingesetzt. Das entspricht ungefähr 25-30 Vollzeitstellen, die dadurch eingespart wurden, bzw. 50-60 Halbzeitstellen.

Sprecher: Im Klartext heißt das: deutsche Hochschulen sichern ihre Defizite im Lehrangebot durch externe Lehrbeauftragte ab. Hierzu zählen eben diese 77.000 Lehrbeauftragten. Eine Umfrage des Deutschen Hochschulverbandes stellt 2010 fest:

Sprecher: „Da Not erfinderisch macht, stehen manche Lehrbeauftragungen unter dem Verdacht, eigentlich Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern vorbehaltene Lehraufgaben für wenig Geld zu delegieren.“

Matthias Neis: Der Hintergrund eigentlich dieser Lehrbeauftragten war, ein relativ kluger Gedanke, Praktiker in die Lehre zu integrieren, die woanders ihre Hauptbeschäftigung haben und jetzt für die akademischen Meriten ein Zusatzangebot machen. Praxis in die Hochschulen bringen. Also Lehrbeauftragte sind ein wachsendes Heer, die kein richtiges Anstellungsverhältnis haben, sondern einen Lehrauftrag, so wie ein Honorarvertrag von der jeweiligen Hochschule erhalten. Und es gibt keine Entlohnung, sondern eine Aufwandsentschädigung.

Sprecherin: Die wenigsten Lehrbeauftragten heute kommen allerdings aus einem festen Anstellungsverhältnis an die Uni, um ihre praktischen Erfahrungen weiter zu reichen. Es sind vielmehr Promotionsstudierende wie Sabine Volk oder Michael Bahn, Promovierte wie Dr. Dirck Linck, Wissenschaftliche Mitarbeiter wie Olaf Jann und Privatdozenten wie Elisabeth Meyer-Renschhausen, die ihr Haupteinkommen keineswegs aus Beschäftigungen außerhalb der Universitäten erzielen, sondern auf die Aufwandsentschädigungen für die geleistete Forschungs- und Lehrtätigkeit angewiesen sind, um zu überleben.

Interviewerin: Frau Volk, Sie haben mir heute Morgen, ich habe es mir aufgeschrieben, um 6:17 Uhr eine E-Mail geschickt. Wann fängt Ihr Tag an?
Sabine Volk: Ja, das frage ich mich manchmal auch, also ich bin gestern - war ich auf einem Vortrag im Einsteinforum und bin dann nach Hause gekommen, musste mein Seminar vorbereiten, ich saß bis zwei Uhr und meine Tochter schläft so bis halb acht. Dadurch, dass in der Uni die Arbeit relativ spät beginnt, relativ spät, ist das ein Luxus, den sie hat, und da muss ich natürlich bevor sie aufwacht und bevor ich ihr ein Frühstück mache, muss ich mich an den Schreibtisch setzen und vielleicht auch noch was für mein Seminar vorbereiten bzw. überhaupt diesen Tag planen, um alles unter einen Hut zu bringen. Also, ich habe immer so Phasen. Ich schlafe so vier bis fünf Stunden unter der Woche und brauch´ dann aber mal wieder einen Tag, wo ich dann doch ein bisschen Schlaf nachholen kann.
Interviewerin: Und wie viele Tage hat die Woche?
Sabine Volk: Naja, als Doktorandin kurz vorm Abschluss - sieben. Das ist eine große Belastung, großes Problem, aber das ist auch schön mit einem Kind zwangsweise eine Struktur haben zu müssen, denn die möchte ich meiner Tochter auch geben. Und letztlich zwingt es mich dazu, mich noch mehr zu disziplinieren.

Sprecherin: Diese Disziplin ist mittlerweile dringend nötig. Nicht nur im Privaten, sondern vor allem in Hinsicht auf die akademische Karriere. Denn die Grenzen der Qualifikationsphasen wurden 2007 streng reglementiert. Seit der Einführung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes gilt es bundesweit.

Atmo: mehrere Uhren ticken, auch als Hintergrund für folgenden O-Ton

Matthias Neis: Sie dürfen im Wissenschaftssystem eigentlich nur 6 Jahre bis zur Promotion und 6 Jahre nach der Promotion befristet arbeiten. 2 mal 6 Jahre darf man das. Wer danach keine Dauerbeschäftigung bekommt, der ist raus.

Atmo: Uhr hört auf zu ticken

Olaf Jann: Das nennt man so im Fachjargon Verschrottung des Mittelbaus, oder Verschrottung der Privatdozenten. Das hat ein Staatssekretär mal so benutzt den Satz, also auch in voller Absicht, wo man weiß, es ist der tatsächliche politische Wille auch gewesen, diese Leute aus dem System zu kriegen.

Dirk Linck: Man muss sich klar machen, kein Mensch kauft sich eine Wohnung, kein Mensch gründet leichtfertig eine Familie, wenn er immer nur für 2, 3, höchstens 4 Jahre, manchmal nur für ein halbes Jahr durch Verträge abgesichert ist. D.h. man schafft eine solch große Unsicherheit unter den Dozierenden, dass es eben auch auf die Qualität der Lehre durchschlägt.

Atmo: Uhr

Elisabeth Meyer-Renschhausen: Mit dieser 1. Kohlregierung fing es an, dass man auf so eine Art Eliteausbildung setzte, also man wollte mehr Professuren aber keinen Mittelbau mehr, obwohl man bis dahin die Politik gefahren hatte, etwas mehr Lehre, mehr Mittelbauern nannte man die, also wissenschaftliche Mitarbeiter, Assistenzprofessoren, auch auf Zeit und um mehr Unterricht anbieten zu können. so wurde die Situation für die Privatdozenten immer schlechter und immer mehr Privatdozenten bekamen nie mehr eine Stelle. Also Leute, die, weiß ich nicht, 6, 7, 8 oder mehr Jahre in ihre eigene Qualifikation gesteckt haben, die kann man hinterher nicht so behandeln, als hätten sie in der Zwischenzeit gar nichts getan. In den glücklichsten Fällen haben Privatdozenten dann Ehefrauen, die Lehrer sind oder anderweitig ordentlich verdienen, so dass es nicht so viel ausmacht.
Also von wegen, die deutschen Universitäten gehen besonders schlecht mit ihren Privatdozenten um, indem sie die gar nicht bezahlen. Die Privatdozenten bekommen gar nichts, die bekommen in Berlin wenn man alleine unterrichtet und auch nur dann 153€ pro Semester, also ungefähr die Busfahrkarten zur Uni hin und zurück. Da kann man sich dann auch seine Habilitation an den Hut stecken (lacht).

Atmo: Uhr

Rahel Jaeggi: Es ist ja so, dass jemand, der habilitiert ist, muss lehren. Also, der muss, damit die Habilitation nicht verfällt, muss der in regelmäßigen Abständen an dem Institut, an dem er habilitiert ist, lehren. Und das wird, wenn man Glück hat, bezahlt, wenn das Institut sich das leisten kann. Aber sicher ist das keineswegs.

Atmo: Uhr

Matthias Neis: Und jetzt gibt es das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, dass das völlig aufgeweicht hat, mit der Aussage, solange der Hauptanteil der Beschäftigung über Drittmittel finanziert wird, gibt es keinen szs. Grenze, Altersgrenze. Und seit es das gibt, ist natürlich auch so eine Karriere denkbar, die halt von Befristung zu Befristung bis hin zur Verrentung führt.

Sprecherin: Drittmittel sind Gelder, die nicht direkt aus den Hochschuletats kommen und zu über 90% von der Deutschen Forschungsgemeinschaft vergeben werden, der Rest kommt aus der freien Wirtschaft. Drittmittel müssen beantragt werden - eine zeit- und kraftraubende, hochunsichere Angelegenheit.

Olaf Jann: D.h. wenn sie im geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich arbeiten, ist die Chance Drittmittel einzuwerben marginal. Ich kenne Fälle aus Münster, da hatten die Drittmittel eingeworben, aber es wurden trotzdem die Verträge nicht verlängert.
D.h. für viele stellt sich dann auch gar nicht mehr die Möglichkeit die Habilitation überhaupt zu machen, weil sie eben gar nicht mehr sozusagen dieses Zeitdeputat haben an der Universität beschäftigt zu sein, ´ne Stelle zu kriegen. D.h. also, wenn man dieses Zeitdeputat ausgeschöpft hat, dann kann man nur noch arbeiten, wenn man eine Professur hat.

Atmo: Uhr aufziehen

Rahel Jaeggi: Ich meine, die Habilitation ist ja nun gerade sehr umstritten und es wird ja auch immer wieder mal behauptet, die wird eigentlich tendenziell abgeschafft. Und es ist viel kritisiert worden, dass die Habilitation eigentlich etwas ist, das die deutschen Wissenschaftler hindert, was ein Hemmnis ist, weil sie eben noch einmal so viele Jahre an ein Projekt hängen müssen, das eben doch noch sehr reglementiert ist.

Sprecherin: 2002 wurde durch die 5. Novelle des Hochschulrahmengesetzes das Konzept der Juniorprofessur eingeführt. Demnach können Promivierte innerhalb von 6 Jahren eine Juniorprofessur erlangen. Dies stellt eine Alternative zum Habilitationsverfahren dar, die alt hergebrachte Voraussetzung den Ruf auf eine Professur zu erhalten.

Rahel Jaeggi: Juniorprofessuren sind eigentlich das, was in den USA oder in England Assistent Professors sind, das sind Stellen, die man nach der Promotion kriegt und die dann auch über 6 Jahre gehen und die dann eigentlich eine Habilitation ersetzen. Die Frage ob das so ist oder nicht, wird der Arbeitsmarkt (lacht) zeigen, wobei die meisten Juniorprofessorinnen, die ich kenne, auch gleichzeitig trotzdem habilitieren. Aber genau genommen müssten sie das nicht.
Eines der großen Probleme der Juniorprofessur ist, das nicht klar ist, wie die verstetigt werden können.
Wenn du in der Zeit das publiziert hast und das gemacht hast und auch als Kollege dich in der Weise bewährt hast, wie das eben gewünscht ist und erfordert ist, dann kann diese Stelle verstetigt werden. Und das heißt tenure track, und das irgendwie das, worauf man hinaus will damit. In Deutschland hat man aber diese Juniorprofessuren eingeführt, ohne sich so richtig vorher schon festzulegen und drum zu kümmern, dass es dann auch genau diese Option auch geben müsste.
Aber eine sehr viel frühere Festanstellung ist damit jetzt auch nicht unbedingt verbunden.

Musik: Jon Brion „Tibe Hurt lets“

Sprecher:
Kapitel 4: Offertorium - Wer lehren will, muss leiden

O-Ton Adorno: Sie müssen in jedem Augenblick bereit sein, an jeder Stelle zu funktionieren und nur wenn sie diese Bereitschaft ununterbrochen unter Beweis stellen, dann entgehen sie der universalen Drohung der Arbeitslosigkeit.

Sprecherin: Weder Habilitation noch Juniorprofessur führen also automatisch zum Professorenstuhl und somit zu einer unbefristeten Festanstellung. Die Entscheidung ob, wann und wer berufen wird, liegt einzig bei den jeweiligen Hochschulen und Instituten. Ungefähr 10 000 Privatdozenten sind aus diesem Grund auf der Suche nach Gastprofessuren und Lehraufträgen. In anderen Ländern wie Frankreich oder England gibt es unbefristet Beschäftigte auf der Ebene der Dozenten. Maître de Conference oder Lecturer sind festangestellt und tragen einzig zur Sicherung des Lehrangebots bei. In Deutschland wurde diese Ebene, ehemals Akademische Ratsstellen, de facto ersatzlos abgeschafft. Den Dozenten, die die Lehre als Berufung empfinden, ist der Beruf abhanden gekommen.

Atmo: Schritte

Michael Bahn: Ja, man muss sich bewusst sein, wenn man einen Lehrauftrag annimmt, dass der natürlich immer nur ein Semester lang geht, sechs Monate. Dass man dann möglicherwiese keinen neuen bekommt.

Atmo: Schritte

Olaf Jann: Man weiß nicht, was man in einem halben Jahr macht, man weiß nicht wo man in ´nem halben Jahr ist. Und vor diesem Hintergrund kann man eigentlich nicht vernünftig wissenschaftlich arbeiten. Also, d.h. es gibt überhaupt keine Planungssicherheit.

Atmo: Schritte

Michael Bahn: Also Krankenversicherung, Sozialversicherung etc, alles, was da anfällt, muss man selbst bestreiten, von dem was man irgendwie irgendwo bekommt.

Atmo: Schritte

Rahel Jaeggi: Wir sind also Jahre lang immer davon ausgegangen, dass es alles sehr prekär ist und prekär wird und noch prekärer wird, und dass wenn wir dann mal habilitiert sind, dann wird es ganz schlimm.

Atmo: Schritte

Matthias Neis: Hier in Berlin hat das mal sich jemand angeschaut, in ‘ner Befragung, und die Ergebnisse waren relativ erschreckend. Ich glaube weniger als 40 % waren überhaupt krankenversichert aus einem Beschäftigungsverhältnis heraus, sondern über Familienversicherung oder anderes. Das Durchschnittseinkommen betrug bei einem Drittel etwa 600€ und bei über 50 % unter 1 000 €. Bei 600 € sind Sie natürlich ganz schnell im Aufstockerbereich drin. Also das sind Verhältnisse, die wirklich tragende Teile der Lehre bewältigen, in wirklich prekärsten Situationen.


Sprecherin: Nicht nur, dass diese prekären Beschäftigungsmethoden an der Tagesordnung sind, erschwerend kommt hinzu, dass die Angebote der Lehrbeauftragten in sehr vielen Fällen kapazitätswirksam sind. Das bedeutet, dass die Hochschulen sie zu ihrem Mindestlehrangebot zählen und eben nicht als zusätzliches Angebot für die Studenten.
Kultusministerkonferenz, Deutscher Hochschulverband, Hochschulrektorenkonferenz und der Wissenschaftsrat sind sich laut einer Studie des Instituts für Hochschulforschung Wittenberg 2010 einig darüber, dass zusätzliches Personal in der Lehre notwendig ist. Ein Konsens konnte bis heute nicht gefunden werden, denn dazu bedürfte es einer strukturellen Neugliederung der Hochschulen. Deutschland tut sich schwer, während 100 000 Lehrende am Existenzminimum leben und arbeiten und immer mehr Studenten den Traum von der „Wissenschaft als Beruf“ träumen.

Matthias Neis: Da ist dann plötzlich die große Wegscheide, entweder man erreicht sie, vielleicht 10 Prozent der Leute tun das. Oder man erreicht sie nicht und steht dann plötzlich vor einem großen Stoppschild. Ist aber möglicherweise Weise Anfang Vierzig, Mitte Vierzig, bevor einem dann wirklich klar wird, dass wird nichts mehr mit der Professur und was passiert denn dann. Und das ist eine Frage, wo sich sämtliche Institutionen fein zurückhalten.

Olaf Jann: Das ist eine völlig brutale Art einerseits mit Menschen umzugehen, es ist aber auch grundsätzlich natürlich auch eine brutale Art wie Universität überhaupt mit ihren Angestellten umgehen. Man geht ja eigentlich davon aus, dass Arbeitgeber auch eine gewisse Fürsorgepflicht eigentlich für ihre Leute haben, aber wie sozusagen an Universitäten auch mental damit umgegangen wird, dass dieses Problem überhaupt nicht wahrgenommen, nicht thematisiert wird, nicht anerkannt wird, dass es diese Probleme gibt, ist völlig skandalös.

Atmo: Schritte

Michael Bahn: Ich habe überlegt, ob ich Hartz IV beantragen würde, aber das funktioniert deswegen nicht, weil ich Promotionsstudent bin. Wenn ich promoviere, d.h. ich stehe dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, deswegen bekomme ich kein Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenagentur sagt auch ganz klar, dass Hartz IV nicht dazu gedacht ist, um Promovierende durchzubringen. Hartz IV ist kein Stipendium. Also das fällt völlig flach.
Der Vizepräsident für den wissenschaftlichen Nachwuchs sagt zu uns: "Gehen Sie woanders hin. Potsdam bietet Ihnen keine Stellen. Gehen Sie woanders hin! Suchen Sie sich Stellen! Seien Sie mobil! Sie müssen jung und flexibel sein!"

Musik: Flat Earth Society „Naar de Emmalaan“

Sprecher:
Kapitel 5: Sanctus Benedictus – Wir wollen etwas tun

O-Ton Adorno: Meine These dazu würde lauten, dass im Innersten alle Menschen, ob sie es sich zugestehen oder nicht, wissen, es wäre möglich. Es könnte anders sein.

Atmo: Demogeräusche

Sprecherin: Auf deutsche Nachwuchsakademiker wirken inzwischen tatsächlich gewisse Fliehkräfte. Zwar zählen Statistiker in Deutschland nach wie vor ein relatives „Brain Gain“, d.h. es ziehen mehr Hochqualifizierte aus dem Ausland hinzu, als deutsche Akademiker weg, doch wenigstens vorübergehend sehen viele junge Wissenschaftler für sich in anderen Ländern bessere Perspektiven.
Einige von denen, die bleiben wollen, haben angefangen sich zu organisieren und sind entschlossen, für eine Verbesserung ihrer Lage zu kämpfen.
Das kann frustrierend und riskant sein, denn die Aktivisten gefährden damit die eigene Karriere. Doch weniger als 5€ Stundenlohn wirken motivierend, etwas zu tun.

Atmo: Demogeräusche

Sabine Volk: Ich hatte 60 Studentinnen und Studenten in meinem Kurs. Na, wir haben da schon mal zuvor geahnt wie viel wir als Stundenlohn wohl bekommen. Als tatsächlichen Stundenlohn. Und das hat uns motiviert etwas zu verändern an der Gesamtsituation.
Michael Bahn: Erst einmal hat es uns erschreckt.
Sabine Volk: Ja, natürlich!

Michael Bahn: Es muss ja! Wie es immer so schön heißt. Aber um diesen "es muss ja" ein Stück entgegenzutreten, haben wir dann auch gesagt: Nein, wir müssen etwas tun. Und deswegen die Initiative.

Sprecherin: 2010 lernte ich die Initiatoren der Intelligenzija Potsdam, Sabine Volk und Michael Bahn, kennen. Wir trafen uns an einem schwülen Sommernachmittag in einem 14m² großen Büro, das sie sich mit 12 anderen Lehrbeauftragten teilten. Immerhin hatten sie eins, was für viele Lehrbeauftragte nicht selbstverständlich ist.

Sabine Volk: Es ist uns wichtig, uns zu engagieren, um die Situation zu verbessern. Wir haben nichts mehr zu verlieren. Das ist der Punkt. Und wir haben irgendwann festgestellt, wir haben auch keine Angst mehr.
Die ganzen Zuschriften, die uns über die Jahre ereilt haben, haben uns dazu gebracht, zu überlegen, dass wir die Initiative ausweiten auf ganz Deutschland, eigentlich sogar auf ganz Europa, denn wir haben auch aus anderen Ländern Zuschriften bekommen. Es scheint wirklich eine große Not zu herrschen und es scheint viele Menschen zu geben, die darauf warten, dass mal eine Bewegung sich in Gang setzt, um diese ganzen Missstände aufzudecken. Gerade die Bildungsrepublik Deutschland, die sich das so auf die Fahne schreibt, da sieht’s an allen Ecken und Enden so mau aus und so schlecht aus, ja, dass die Leute eben da sehr froh waren, dass sich was bewegt und dass sich was tut.
Und deshalb auch die Petition, die wir dann ans Wissenschaftsministerium geschickt haben. Wir wussten von vornherein, dass wir da keine positive Antwort erhalten werden. Aber was wir geschafft haben, wir haben über 1200 Unterschriften gesammelt.

Sprecherin: Das ist natürlich nur ein Anfang, zumal keine anerkannte gewerkschaftliche Vertretung wie ver.di oder die GEW sich für die Interessen der Lehrbeauftragten stark macht. Lehrbeauftragte sind keine Angestellten der Hochschule. Sie sind Honorarkräfte und gelten deshalb als Selbständige. Und um die kümmern sich die Gewerkschaften nicht. Sie bemühen sich allenfalls um neue Tarifverträge für wissenschaftliche Mitarbeiter, die immerhin Angestelltenverträge haben.
Wenn allerdings die Etats der Hochschulen von der Politik nicht aufgestockt werden, bedeuten neue Tarifverträge, dass Lehraufträge in Zukunft noch häufiger unbezahlt bleiben.
Ein Dilemma.
In ihrer Petition fordert die Intelligenzija Potsdam neben der Verdoppelung der Aufwandsentschädigung für einen Lehrauftrag von 540€ auf 1080€ pro Semester, vor allem auch die Anerkennung von Lehrbeauftragten als Mitglieder der Universität. Sie fordern mehr Planungssicherheit in dem Sinne, dass Lehraufträge über mehrere Semester vergeben werden. Langfristig sollen die prekären Beschäftigungsverhältnisse der Lehrbeauftragten in feste Stellen übergehen.

Sabine Volk: Wir haben eine breitere Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisiert und wir haben klar gemacht, dass es uns gibt und dass wir nicht wegzudiskutieren sind, dass wir nicht zu übersehen sind und dass wir uns auch nicht in Luft auflösen durch parteipolitisches Geplänkel und sich Verantwortung hin und herschieben.

Atmo: abschwellende Demogeräusche

Sprecherin: Auch in Berlin haben einige Lehrbeauftragte bereits vor zehn Jahren begonnen, sich zu organisieren. Sie kämpfen mit vergleichbaren Problemen wie die Lehrbeauftragten. Elisabeth Meyer-Renschhausen gehört dazu.

Elisabeth Meyer-Renschhausen: Also ich hab noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass (lacht) ich als PD oder Lehrbeauftragte in irgendein Gremium gebeten worden wäre. Das Institut für Soziologie der FU Berlin, das wurde ja quasi abgewickelt seit der Wende. Die haben aber 32 Privatdozenten am Institut f. Soziologie der FU Berlin, was macht man jetzt mit denen. Also kriegten wir vor einer Weile mal einen Brief: Es wäre ihnen dann jetzt Recht, wenn wir jetzt nicht mehr unterrichten würden und da sie ja schon wussten, dass wir in der Presse szs. schon als Grüppchen auftraten, als Initiative Berliner Privatdozenten, haben sie dann geschrieben, ohne dass wir die Rechte als Privatdozenten verlieren würden.

Sprecherin: Elisabeth Meyer-Renschhausen hat zuletzt als Mitherausgeberin das Buch „Zur Kritik Europäischer Hochschulpolitik“ vorgelegt. Die Berliner Privatdozenten fordern eine Erhöhung der Aufwandsentschädigung von aktuell 153€ auf 6000€ pro Semester. Also 1000€ pro Monat. Was im ersten Moment nach einer saftigen Forderung klingt, ist eigentlich recht bescheiden und unterstreicht nur die Absurdität der aktuellen Situation. Die Regelung zur „Entlohnung“ von Privatdozenten gilt seit 1973 zumindest in Berlin unverändert.
Sie befürchten, dass auf der Grundlage des General Agreement on Trades and Services von 1995 der Bildungssektor privatisiert und zu einem Dienstleistungsbereich degradiert wird. Zwar sind in Deutschland weite Teile des Bildungssystems noch vor den Kräften des freien Marktes geschützt, doch ausgerechnet der Bereich der universitären Lehre ist es nicht.

Musik: Cinematic Orchestra „Familiar Ground“

Atmo: Herzschlag Rhythmus der Musik


Sprecher:
Kapitel 6: Agnus Dei - Was die Nächte finster macht

O-Ton Erich Fromm: Das Symptom ist ja wie der Schmerz, nur ein Anzeigen, dass etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat. Wie glücklich der, der ein Schmerz hat, wenn ihm etwas fehlt. Wir wissen ja, wenn der Mensch keine Schmerzen empfinden würde, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage.


Sprecherin: Die gefühlte Fallhöhe für Lehrbeauftragte und noch mehr für Privatdozenten ist enorm hoch. Wie für viele andere auch, steht hinter dem Szenario des möglichen Scheiterns, die Frage nach dem „Was kommt dann?“. So abgehoben oder weltfremd uns ihre Forschungsprojekte manchmal auch vorkommen mögen, so real und vertraut sind ihre Ängste.

Atmo: Herzschlag

Dirk Linck: Für mich wäre das Schlimmste, das Verwaltetwerden. Also mein größter Horror ist nicht so sehr auf Geld, ich kann, glaube ich mit unheimlich wenig Geld auskommen. Aber ich habe ganz große Schwierigkeiten, wenn man zum Beispiel rein geraten würde in dieses System von Hartz IV oder selbst die ganz normale - ich war mal ein halbes Jahr arbeitslos - dieses ganz normale: Termin haben beim Arbeitsamt. Das ist etwas, das mich innerhalb von Wochen in eine Depression bringen kann. Und das hat was mit dem Gefühl des Verwaltetwerdens und des Entmachtetseins zu tun. Zu diesem Verwaltetwerden gehört z.B. die Einschränkung der Mobilität. Ich halte es auch für grundgesetzwidrig, aber es ist eben ein Faktum. Dieser Terror des Erreichbarseins. All diese Dinge von denen ich glaube, dass sie rechtlich nicht zu halten, ethisch nicht zu verantworten, menschlich nicht zu ertragen sind, das sind die Dinge, die ganz oben stehen. Also das Materielle ist sicher unangenehm, aber ich habe in diesen Jahren, in denen ich frei gearbeitet habe, wenn das mit einem Auftrag nicht geklappt hat, ich habe so viele Monate verbracht, wo ich ab dem 15. von Margarinebrot gelebt habe.

Atmo: ruhiger Herzschlag

Michael Bahn: Also, ich rechne nicht mit einer Art klassischen akademischen Laufbahn. Ich möchte sie allerdings auch nicht beschreiten. Mittlerweile.
Also, für mich ist ganz klar, ich schließe meine Promotion ab. Ich würde sehr gern weiterhin lehren. Aber rein im Forschungs- und Lehrbereich zu arbeiten, das funktioniert für mich nicht. Ich glaube, der Traum ist in Teilen durch die Situation auch ein bisschen gestorben.

Atmo: Herzschlag

Dirk Linck: Heute ist das wirklich Gemeine, weil es die Leute hilflos macht, zu sagen: „Ja wenn’s nicht geht, dann geht’s nicht. Wir brauchen Euch nicht. Funktionieren tut’s auch ohne Euch“.

Atmo: stolpernder Herzschlag

Sabine Volk: Ja also, in unserer Leistungsgesellschaft wird viel mit Angst gearbeitet und es funktioniert ganz viel über diese Angst, die dauerhafter Begleiter wird. Und aus dieser Spirale müssen wir rauskommen.

Atmo: Herzschlag, schneller werdend

Dirk Linck: Ja das ist dann eben etwas, das die Nächte finster macht. Also in der Tat, da kommt dann die Panik. Wenn man weiß, dass eben, wenn es scheitert, scheitert es total.
Bei mir - ich glaube, auch bei anderen Menschen - die Panik ihre Zeit in der Nacht hat, geht das schon auch auf Beziehungen und das Privatleben. Also, wir organisieren uns dann ja so, dass wir am Tag funktionieren und die Panik kommt immer nachts. Diese schlaflosen Nächte, wo man sich überlegt, wie wird es denn weitergehen? Wird es weitergehen?

Atmo: wenige Herzschläge

Sabine Volk: Meine Mutter ist auch selbst sehr engagiert, auch politisch engagiert und unterstützt mich. Es ist die Person, die mir Halt gibt, ohne die ich das was ich mache, überhaupt gar nicht machen könnte. Dafür bin ich täglich dankbar. Gerade wenn mich die Panik ereilt, die jeden ereilt in den Nächten, in denen klar wird, dass man keinerlei Absicherung hat, ist sie für mich rettend. Auf jeden Fall.

Atmo: wenige Herzschläge

Michael Bahn: Nichts desto trotz komme ich irgendwann dann abends nach Hause und dann sitze ich vor einem leeren Kühlschrank, wenn ich nicht irgendwie anders abgesichert bin und frage mich natürlich, kaufe ich mir jetzt was zu essen als nächstes oder zahle ich die Stromrechnung. Insofern kann ich nachvollziehen, dass man grade dann abends, wenn der Tag dann sackt, wenn diese Resonanz aus den Seminaren nicht mehr nachhallt, die Realität auf einen einbricht.

Atmo: wenige Herzschläge

Dirk Linck: Also, mein Verdacht wäre schon, dass wenn man also die schärfste Differenz zwischen Leuten, die in ungekündigten, unbefristeten Stellen sitzen und den Leuten in prekären Verhältnissen definieren müsste, würde man es an der Nacht festmachen können. Ich glaube, die guten Nächte sind der Unterschied der Privilegierten zu denjenigen, die Ängste haben.

Atmo: Herzschläge verschwinden in folgender Musik

Musik: Cinematic Orchestra „Dawn“

Sprecher:
Kapitel 7: Lux Aeterna – Zeit, aufzuwachen

O-Ton Adorno: Ach das sind doch Utopien. Ach das ist doch nur im Schlaraffenland möglich.

Sprecherin: Die Politik riskiert nicht nur ganze Generationen von Wissenschaftlern zu verschrotten, sondern korrumpiert die Institution Hochschule insgesamt.
Haben wir Humboldt in Bologna verloren?

Sabine Volk: Also ich habe meinen Lehrauftrag für dieses Semester zurückgegeben noch bevor das Semester anlief, also das jetzige Sommersemester 2011. Ich saß am Schreibtisch und habe gerade meine letzten Arbeiten korrigiert, also aus dem vergangenen Semester. Naja und habe meine Dissertation noch nebenbei betrachtet, die im Grunde fertig ist und noch den letzten Schliff bräuchte und habe gemerkt: Ich komme mit allem nicht mehr zurande. Das ist verantwortungslos meiner Tochter gegenüber, die ist mit Sicherheit auch eine große Leidtragende des Zeitmangels und auch des Stresses und der psychischen Situation, der ich dauerhaft ausgesetzt bin, in der dauerhaften Unterbezahlung. Es ist verantwortungslos den Studierenden gegenüber, die auch eine Dozentin vorgesetzt bekommen, die nicht in ihrer Kraft steht und zuletzt verantwortungslos mir selbst gegenüber, weil ich gemerkt habe, es macht mich kaputt.
D.h. also immer 100% geben und gleichzeitig keinerlei Absicherung erfahren, das ist was, ja, damit brauche ich meine Kräfte auf. Ich habe letztlich den Schlusspunkt gesetzt bevor ich zusammen gebrochen wäre.
Ich lehre unglaublich gerne, das merke ich auch jetzt. Es fehlt mir die Lehre, aber nicht um diesen Preis. Das geht nicht.

Dirck Linck: Es war eine dieser typischen krankheitsbedingten Lebenskrisen, die ich im Anschluss an Siegen hatte, wo ich sehr krank geworden bin, so krank, dass nicht klar war, ob ich es überleben würde und in so einer Phase, die sich dann auch relative lange hinzog, wo diese Unklarheit blieb, ob ich die Krankheit überstehe oder nicht, verändern sich einfach die Perspektiven auf die eigenen Vergangenheit, aber auch auf die Zukunft, auf die Institution, aus der man gekommen ist. Es sind diese ganz kitschigen Verlagerungen von Schwerpunkten, die wirklich in jedem Heinz Rühmann Film auftauchen (lacht), wo der kleine Mann in einer schweren Lebenskrise anfängt, die Dinge neu zu gewichten und der berühmte Satz in solchen Filmen ist, glaube ich, dass die kleinen Dinge wichtiger werden. Klischees haben aber ihren wahren Kern und es gibt solche Umgewichtungen im Leben. Und in der Tat war diese Krankheitsphase, die Phase, in der ich eine Entscheidung für mich getroffen habe, nämlich die Entscheidung nicht zu habilitieren.

Matthias Neis: Prekär bedeutet ja vom Wort nichts anders als gefährdet oder unsicher. Und vielleicht kann man wirklich von dieser ganz simplen Dudenbedeutung kommen: Eine prekäre Situation ist eine der beständigen Unsicherheit im Leben und zwar darum geht es: um Lebensverhältnisse. Und Prekarität, ja, gab es eigentlich immer. Das Besondere an dieser Prekaritätsphase, die wir erleben, ist, dass ihre Quelle die Erwerbsarbeit ist.

Musik: Cinematic Orchestra „All things to all men“

Rahel Jaeggi: Also ich hatte im Grunde, weil Du ja wissen wolltest, wie es läuft, wenn es nicht prekär läuft, wenn ich mir das so rückwirkend überlege, ist es wirklich sehr, also ich meine, es ist so glatt gegangen, wie man gar nicht glaubt, dass es glatt gehen kann. Das ist aber eher ein riesengroßes Glück und so etwas wie sechs Richtige im Lotto.

Sprecherin: Rahel Jaeggi promovierte 2002 und habilitierte 2009. Sie wurde 2010 auf einen Lehrstuhl für praktische Philosophie der Humboldt Universität Berlin berufen und ist damit eine von derzeit 7 300 Professorinnen in Deutschland. Sie hat es geschafft. Übrigens: Gerade einmal 18 Prozent der Professorenstellen sind mit Frauen besetzt.

Michael Bahn: Letztendlich habe ich an der Uni Potsdam dann ein Langzeitstipendium bekommen, d.h. ich bin für 12, 24, 36 Monate abgesichert. Deswegen kann ich es mir auch erlauben noch einen Lehrauftrag zu geben nebenbei, weil ich diesen Lehrauftrag nicht zwingend brauche, um mich zu finanzieren.

Elisabeth Meyer-Renschhausen: Das wissen wir doch in der ganzen Gesellschaft, dass die Gesellschaft sich auflädt und immer mehr Aggressionen entstehen, also einerseits Stress und sei es dessen, weil man ganz sicher zu den Pionieren der künftigen Altersarmut gehört (lacht). Also weil das irgendwie ganz klar ist.
Ich meine, ich bin jetzt Künstlersozialkasse, also da zahl ich ja nicht viel ein, deswegen wird’s auch nicht mehr. Ich habe überhaupt gar keine Sozialversicherungsjobs mehr. Das gibt’s doch in Berlin doch gar nicht mehr. Und die sind dann eben Trödler oder Kebapbesitzer oder eben Privatdozenten oder freischaffende Künstler.

Dirck Linck: Ich habe dann irgendwann begriffen, die Uni funktioniert nach den gleichen Gesetzen, nach denen Gesellschaft funktioniert und der abhängig Beschäftigte an einer Uni ist in einer vergleichbaren Lage wie jeder abhängig Beschäftigte im Kapitalismus. Er hat halt relativ wenig Möglichkeiten sich zu widersetzen. Er hat in bestimmten Bereichen sogar weniger, weil es gibt eben ganz selten Streiks von Dozierenden zum Beispiel.

Rahel Jaeggi: Im Negativen ist es so, dass genau diese Berufsgruppe vormacht, wie es mittlerer Weile jetzt ja auch alle möglichen anderen Leute trifft. Genau diese Zumutungen. Du musst dich ständig selbst erfinden und dich dann möglichst so erfinden, dass der Markt für dich dann auch den Platz noch hat.

Elisabeth Meyer-Renschhausen: Also die ganzen szs. von Lissabon bis Bologna bereiten die Unis auf ihre Privatisierung vor, nicht zuletzt natürlich, dass die Unis jetzt gemanagt werden. Also wenn man Unis kaputt kriegen will, dann auf diese Art und Weise.
Und hier wird auch immer mehr geschwiegen, damit man sich die Karriere nicht kaputt macht und insofern verschwindet eigentlich das, was wir hatten - eine freie Forschung und Lehre verschwindet.

Dirk Linck: Es muss eine grundsätzliche Diskussion darüber stattfinden, welche Universität wollen wir. Wir haben die Universität im klassischen Sinne abgeschafft. Und jetzt müssen wir uns entscheiden, wollen wir sie wieder einführen oder wollen wir akzeptieren, dass es keine Universitäten in Deutschland und vermutlich auch in Europa mehr gibt.

Adorno: Was Utopie ist, ja, das ist die Veränderung des Ganzen.
***

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Feature zum Mauerfall - Gemischte Gefühle
https://soundcloud.com/hilke-und-krause/gemischte-gefuehle

Inhalt

12 Menschen: sechs Ostdeutsche, fünf Westdeutsche und eine seit 35 Jahren in Berlin lebende Französin berichten von ihren Gedanken und Gefühlen zum 9. November 1989. „Gemischte Gefühle“ ist ein Querschnitt an Erinnerungen, eingebettet in Auszüge aus Cees Nootebooms „Berliner Notizen“, die den Blick „von außen“ auf dieses historische Ereignis widerspiegeln. Manchmal ist es schwer, die einzelnen Kommentare Ost oder West zuzuordnen – das hat uns am stärksten beeindruckt.
Dauer

9:49 Minuten

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Freitag, 19. März 2010
krausedoku killt das Grippeschwein im swr2 dokublog
Liebe Leute!
Seit einer Woche ist die neueste Folge der Radio-Feature-Serie "Mehrspur" im Dokublog zum Thema Schweinegrippe zu hören. Mit dabei auch ein Beitrag von uns: "Konrad, das Grippeschwein" - Ein "kriminalistisches" Hörspiel-Feature.
Zur ganzen Sendung geht es hier: http://www.swr.de/blog/swr2_dokublog/site/index.php?page=Artikel_lesen&id=128&ExtTitel=Mehrspur.%20Das%20Feature%20mit%20dem%20Dokublog%2010.3.2010&ExtLink=http://mp3-download.swr.de/swr2/feature/dokublog/20100310-1300.6444m.mp3

Viel Spaß damit!

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Sonntag, 22. November 2009
Bernardo Carvalho - eine Nachlese
Liebe Hörer, liebe Leser!

hier eine kleine "Nachlese" zum ersten Besuch Bernardo Carvalhos in Deutschland (Oktober/November 2009).

Carvalho zählt zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Brasiliens und hat seit Erscheinen seiner Bücher auf Deutsch ("Neun Nächte", "Mongolia") auch hier große Beachtung gefunden.

Allerdings blieb sein neuester Roman "In Sao Paulo geht die Sonne unter" bislang unbesprochen. Wir haben Carvalhos Lesung besucht und uns mit Marcelo Cordeiro Correia (Uni Jena), der die Lesereise organisiert hat, unterhalten.

Einen Vorgeschmack gibts im Trailer unten zu hören. Das Manuskript bietet Einblick in die gesamte Doku!

Viel Spaß!
Ihre krausedoku

Trailer:
http://www.reverbnation.com/tunepak/2039218

Das Manuskript als PDF:
http://krausedoku.blogger.de/static/antville/krausedoku/files/manuskript%20carvalho.pdf

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Freitag, 6. November 2009
Gemischte Gefühle auf www.fluter.de
Liebe Leute!
Ab Sonntag, den 8.11.09, gibt es unser Feature "Gemischte Gefühle" nochmal auf www.fluter.de zu hören! Es wäre schön, wenn ihr dabei seid!
Viele Grüße aus Kreuzberg,
euer krausedoku-team

direct link: http://www.fluter.de/de/stars/aktuell/8103/?tpl=162

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Donnerstag, 5. November 2009
Radio-Feature "Gemischte Gefühle"


Music Player webQuantcast

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