Montag, 16. Dezember 2013
Manuskript "Bruno S. - Als ich Mensch wurde, musste ich sterben"
Bruno S.
Als ich Mensch wurde, musste ich sterben
Eine radiophone Dokumentation
von Annett Krause und Matthias Hilke
Redaktion: Walter Filz
SWR2/RBB - 2013











Atmo 01: Akkordeon atmet (läuft im Hintergrund weiter)
Lutz Eisholz 01: Das ist unheimlich. Da sagt er doch zu mir: "Ich hab mal eine Frage. An Euch alle. An Euch alle!“

Bruno S. 01: Wenn ich mal sollte tot sein, tot, was wird dann aus meinen Instrumenten?
Musik 01: Klavierstück "Die Forelle", von Bruno S. gespielt, setzt ein und vermischt sich mit dem „Akkordeonatmen“
Bruno S. 01: Werden die dem Fraße der Wölfe vorgeschmissen oder was wird damit geschehen? Wenn ich mal tot sollte sein. Was wird aus meinen Instrumenten? Aus dem Rappen und aus dem Josef? Was mit meinen Instrumenten wird? Dem Fraße der Wölfe! Ja? Oder wo gehen meine Instrumente hin. Wenn ich mal tot bin? Das kann ja mal vorkommen.
Dass die Dinger zerhackt werden? Datt will ick wissen! Aber ob das Glück bringt, ist ´ne zweete Frage!
Da ist es.
Sie sollen glücklich werden, aber nicht unglücklich. Werdet glücklich, aber nicht unglücklich! Werdet glücklich, aber nicht unglücklich!
Kapielski Ansage: Bruno S. - Als ich Mensch wurde, musste ich sterben. Eine radiophone Dokumentation von Annett Krause und Matthias Hilke
Musik: Klavierstück "Die Forelle" endet
Bruno S. 01: Was wird mit meinen Instrumenten? Mit meinem Rappen und mit meinem Josef. Was wird damit.
Atmo aus
Atmo 02: Wohnungstür wird aufgeschlossen, mehrere Personen betreten eine Wohnung.
Kapielski: So. Da wären wir. Kommt rein!
Klaus Theuerkauf 01 a,b: Ja, ja. Der hat sich ja selber eingeschlossen. Mit vier Schlössern hat der sich ja zugeschlossen.
Sprecherin: Mach doch mal die Vorhänge auf, man sieht ja kaum was!
Kapielski: Also, die waren die letzten 20 Jahre zu und so lassen wir das jetzt auch. Ich mach mal Licht an!

Atmo 03, 04: Neonröhre geht an, Leute gehen umher
Atmo 05 unterlegt die folgenden O-Töne

Kapielski: Es ist noch alles, wie es war. Fast.

Sprecherin: Man, man, man! Was für ´ne Höhle?! Hier hat einer gewohnt?!
Klaus Theuerkauf 02 a,b: Er hat immer darunter gelitten, dass er übereinander stapeln musste, dass er ein Zimmer zu wenig hat. So ein Chaos – bei Boris Lurie sah es auch nicht anders aus.
Matthias Reichelt 01 a,b,c: Er lebte wie so ein Einsiedler in seiner Wohnung. Mit diese ganzen gesammelten Gegenstände wie Zahnarztstuhl, OP-Tisch, dieser Flügel - sein großer Schatz.
Sprecherin: JA! Ordentlich vergraben unter Unmengen von Zeug und Glocken!

Kapielski: Seinen Instrumenten hat er Namen gegeben. Sie waren seine Freunde. Der Rappe, das ist der Flügel, der Josef ist das Klavier.

Matthias Reichelt 02 a,b,c: Dann Lokomotiven, überhaupt Eisenbahnwagons. Hinter dem Klavier dann so eine ganz dünne Matratze mit `ner Decke drauf.

Sprecherin: Tatsächlich! Fast wie ein Versteck.
Klaus Theuerkauf 03: Er hat ja keinen großen Grund gehabt, der Welt zu vertrauen, nach seiner Geschichte da.
Kapielski: Deswegen nannte er sich ja auch Bruno S. Er wollte anonym bleiben.
Matthias Reichelt 03: Er sprach ja immer in der dritten Person von sich.
Kapielski: „Der Bruno“ hat er immer gesagte.
Sprecherin: Ich hab´ ihn ja nur ein Mal gesehen. Hier auf der Kurfürstenstraße, und da sah er ehrlich gesagt aus wie ein Obdachloser!
Kapielski: Er hatte seine Gründe! Komm, setz dich an den Flügel, vielmehr Stühle gibt’s hier sowieso nicht.
Sprecherin: Die Büste da – das ist doch Beethoven! Wow, und ein ganzer Haufen Akkordeons. Sagt man das so?! Akkordeons? Also, das ist schon alles ein bisschen seltsam hier, Leute!
Musik 02: Klavierspiel unterlegt folgende O-Töne
Frank Marcks 01: Immer wenn das Thema auf Bruno kommt, wird dieses Wort normal - was ist das für ein Wort, das braucht man gar nicht.
Lutz Eisholz 02: Und man musste sich ja erst mal an ihn heran tasten und seine ungeheure Sensibilität, die er hatte, bei ihm wecken, um zu kommunizieren.
Jan Ralske 01 a,b,c: Das ist ein Typ, der war wirklich von einer Welt, was eine unglaubliche Tradition und Kultur hatte, die es nicht mehr gibt.
Richard Schütz 01: Er hat alles, was er erlebt hat, in sich aufgesogen wie ein Schwamm. Alles ist zu seiner Identität geworden.
Miron Zownir 01: Ich finde ja z.B., dass Bruno als Sänger sowas von unterschätzt wird. Ich finde ihn stärker als Tom Waits.
Werner Herzog 01 a,b: Der größte Schauspieler, größte, tiefste von allen, ist Bruno S. Niemand hat diese Tiefe und niemand hat diese Tragik auf einer Leinwand.
Sprecherin: Ihr habt wohl alle studiert, Jungs?! Könnt ihr bitte mal von Vorne anfangen?!
Kapielski: Na, dann guck mal, was Bruno da an die Tür geschrieben hat?
Sprecherin: [liest entziffernd] Frau Frieda Bremse?
Bruno S. 02a,b: Frau Frieda Bremse, geborene Schleinstein, am 21.12.1900. Das war doch die Frau Frieda Bremse, geborene Schleinstein. Das war meine Mutter.
Kapielski: Bruno wird am 2. Juni 1932 als Bruno Schleinstein in Berlin Tempelhof geboren. Unehelich.
Klaus Theuerkauf : Mit 8 Wochen war er zum ersten Mal in der Klinik. Der Vater, den er ja immer so verachtend seinen Erzeuger, über den sprach er ganz schlecht und der hat ihn in die Klinik gebracht, weil er unterernährt war und die Mutter völlig überfordert war. Und dann gab es noch eine Elfriede und ein Hieronymus, das waren andere Geschwister. Der Bruno war der jüngste.
Bruno S. 03: Ick weeß bloß, dass ich unerwünscht war in der Familie, also ich war zu viel gewesen, man hat mir in die Heime gestopft. Und da fing das mit den Waisenhäusern und mit den Erziehungsanstalten an.
Klaus Theuerkauf 05: 1935 ist der das erste Mal drin gewesen, d.h. das war ja in der Hitlerzeit.
Kapielski: Nach sechs Jahren in der Samariteranstalt Ketschendorf kommt Bruno dann im Februar 41 in das Erziehungsheim Wiesengrund der Bonhoeffer Nervenklinik Berlin. Einen Monat später, mit neun Jahren, wird er in die angeschlossene Hilfsschule eingeschult. Hier ist seine Schulakte. Lies mal!
Sprecherin: Bruno Schleinstein ist ein frisches, aufgewecktes Kind. Seinen Kameraden ist er ein guter Freund. In der Gruppe ist er mit Interesse bei der Arbeit und von einer kaum zu befriedigenden Wissbegierde. In der Schule macht er gute Fortschritte. Beobachtet gut, spricht deutlich sinnvoll, spontan oft Fragen. Charakter: gutmütig, freundlich. Gedächtnis und Merkfähigkeit gut. Also, war er nur da drin, weil er ein uneheliches Kind einer alleinerziehenden Mutter war?!
Kapielski: Für die Nazis war er damit „asozial“. Über seine Mutter weiß man so gut wie gar nichts. Es gibt nur ein paar sonderbare Briefe, die sie an das Erziehungsheim geschickt hat.
Sprecherin: Mai 1942. Sehr geehrter Herr Doktor, In unserem Hause wohnt der Teufel und zu dem gehen Sie nicht. Was ich an meinem Sohn Bruno versäumt habe, das hole ich nach. Was habe ich schon für meine Kinder gebetet und immer und immer ist der schlechte Mensch dazwischen. Ich verbitte mir ein für alle Mal unsern Nachbarn. Er hat mich für das Arbeitshaus stempeln lassen. Er hat meine Kinder für ungezogen erklärt. Er hält meine Kinder für verrückt. Ich musste mein Kind, den Bruno, der Anstalt übergeben und der Junge ist gut und niemand ist krank von uns. Könnte ich mich einmal zu Ihnen aussprechen.
Bruno S. 04: Wenn jemand ins Bett genässt hat - das war während der Nazi-Zeit - um die Leine zu ersparen, die Wäscheleine, da musste derjenige den ganzen Tag so auf dem Hof mit dem Laken stehen. Und hinter dem stand der Erzieher mit dem Knüppel. Und wehe dem, die Arme sind müde geworden, dass die runter gefallen sind, schon hat´s Dresche gegeben.
Sprecherin: Das ist doch das Letzte!
Kapielski: Hier! Noch ein Brief.
Sprecherin: Ich möchte Sie höflichst darauf aufmerksam machen, jedem der mir wehe tut und getan hat und der mir so viel durch den Teufel anhängt mit Lügereien überall, wo es auch sei, auf das Energischste zu verbieten, mich nicht mehr mit irgendeiner Sache zu beleidigen. Sorgen Sie bitte dafür, denn ich habe genug um meine Kinder und mich gekämpft. Ins Gesicht bin ich unschuldig geschlagen worden und man wollte mich mit den Kindern schlagen. Wo sind denn seine Geschwister? Was war da los?!
Kapielski: Seine Schwester Inge Elfriede ist zu diesem Zeitpunkt bei ihrem Großvater. Und Rudi …
Bruno 05a,b,c: Tegel. Das Grüne Haus Tegel. Das grüne Haus Tegel, jaaaa. Das Grüne Haus Tegel, da war mein Bruder gewesen. Und ick war doch dazumal in dieses Heim. Beim Spaziergang sind wir da vorbei gekommen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass mein Bruder im Grünen Haus Tegel ist und er konnte das auch nicht ahnen, dass ich da bin. Vielleicht wollten sie das nicht ahnen, weil die liebe Mutter (brüllt) die Schnauze gehalten hat. Und wenn ich Grünes Haus Tegel höre oder irgendwie von Fremde, dann kann ich affig werden. Ich brauch´ nur an eins zu denken: „Es scheinet der Frühling so licht durch den Hain, es rieselt die Quell dort im Sande. Weiter nur zu! Weiter nur zu Zigeunerkind! Hat keine Ruh!“
Musik 03: Bruno „Es scheinet der Frühling“ [spricht zur Akkordeonbegleitung] Glück ist nur Schein. Es gibt kein Glück. Darfst nie glücklich sein. Glück ist nur Schein.
Kapielski: Das „Grüne Haus Tegel“ war auch eine Erziehungsanstalt. Hier ist ein dritter Brief von Brunos Mutter. Alle im Abstand weniger Tage.
Sprecherin: Zeig mal! (Papier fetzt) Sehr geehrter Herr Doktor, es ist mir traurig für den Bruno. Er hat bei der Entbindung Fruchtwasser in den Mund bekommen. Das ist ärztlich festgestellt. Was soll das denn jetzt?! Und hier: Retten Sie mir auch den Rudi und die Inge!
Kapielski: Ich fürchte, sie wird Bruno keine große Hilfe mehr sein, wenn sie tatsächlich dachte, dass die Nazis ihren Kindern helfen würden. Was schreibt sie denn noch?
Sprecherin: Denn krank ist in unserer Familie niemand und durchgemacht haben die Kinder sehr viel hier im Hause. Vielleicht komme ich Dienstag zu Bruno, wohl erst am Sonntag. Das will ich dir auch geraten haben!
Bruno 06 a-e: Also in den Krankenhäusern und in den Anstalten, da habe ich nie Besuch bekommen. Solange wie ick da drinne war. Und überall dasselbe Klima: Wer keinen Besuch bekommt, ist eben kein Mensch. Der ist nur noch ein Halber, der ist ´ne Ruine in Menschengestalt. Und das wird mich auch ewig verfolgen. Und das lässt mir auch keine Ruhe. Dich kiekt keener mehr mit dem Arsche an! Ick bin nämlich verspottet worden genug! Ick gloob´, ick müsste mir´n Strick nehmen und aufhängen. Warum? Weil ich keinen Besuch kriege.
Sprecherin: Sie kam nicht.
Kapielski: Nein. Sie hat noch zwei Briefe geschrieben. Ob sie je Antwort erhalten hat, ist unklar. Im Haus Wiesengrund waren ab 41 die psychiatrischen Abteilungen der Städtischen Nervenklinik für Kinder untergebracht. Genau in diesem Jahr kommt Bruno dorthin. Abteilung zwei hatte etwa 30 Betten und erhielt 42 den täuschenden Zusatznamen „Kinderfachabteilung“, in der so genannte „Reichsausschusskinder“ eingesperrt wurden. Kinderfachabteilung- das sollte wissenschaftlich klingen und bei Eltern Vertrauen schaffen. Tatsächlich führten Nazi-Ärzte hier Versuche an Kindern durch, die häufig tödlich endeten.
Bruno S. 07: Dieser kleine Raum war der kleine Operationssaal von Wiesengrund. Und da wurden die Menschen abgefertigt mit Genickschuss und Luftballon. Das war eine Enzephalografie. Der Genickschuss war zum Beispiel die Lumbalpunktion und der Luftballon war z.B. wenn sie die Leute da Luft rein gepumpt haben zum Röntgen, nich, damit dieses Gehirn nicht auf den Knochen stößt, dass das schweben tut. Das hat ungefähr 24 Stunden gedauert, nich, bis sich das dann wieder eingeordnet hat.
Sprecherin: Hat man an Bruno diese Versuche durchgeführt?
Kapielski: Das ist eine der offenen Fragen um Bruno. Schlimm genug, wenn er es bei anderen miterleben musste. Er war gerade mal zehn Jahre alt.
Bruno S. 08 a-d: Gott nee, da könnt ick. Das war auch während der Hitlerzeit. Giftschlangen! Giftschlangen, weil sie so fromm und dett faustdick hinter die Ohren gehabt haben. Weil Kinder, die meinetwegen hier wackelten oder watt, ditt waren doch ooch kranke Kinder. Die sind sie ja von hinten rangegangen und haben den ein paar Ohrfeigen gegeben. Die sind ran geschlichen, so auf Zehenspitzen. Nich. Und dann ging ditt los. Entweder so oder mit dem Knüppel, damit der oder das gar nicht merken soll. Und damit würd es nicht besser, da kann dett schlimmer werden. Was sollen die denn unternehmen, die Kinder? Die kriegen doch kein Recht.

Kapielski: Die Kinder können nur darauf hoffen, in eine Pflegefamilie zu kommen. In seiner Schulakte gibt es einen Briefwechsel zwischen dem Jugendamt Berlin und Haus Wiesengrund vom März 42. Bruno wird bescheinigt, dass er dafür in Frage käme.
Bruno S 09 a,b,c: Aber ich erzähle euch jetzt eine andere Geschichte. Ich hatte Saaldienst gehabt. Ich war im Heim. In der Massenunterbringung der Lieblosigkeit. Und als ick alles fertig gemacht hatte, alles fertig war, hab´ ick ma hier hingesetzt, am Fenster. Und guckte rüber nach ein bestimmtes Gebäude. Und am Abend, da war Fliegeralarm. Da kamen die Bomben. Und da wurde dieses Gebäude bombardiert. Bis auf die Grundmauern. Und das hat gebrannt. Und da saß er so. Und er guckte immer rüber und immer rüber.
Klaus Theuerkauf 06 a,b: Weil diese Schweinchen von Pflegern, die sind in den Luftschutzkeller und haben die Kinder oben gelassen. Und die Kinder haben oben gesehen, wie die ganze Silhouette und die Skyline brennt. Das hat er alles gesehen. Also der ist schon durch die Hölle gegangen der Junge. So was kann man auch nicht vergessen. Ich sagte manchmal: „Bruno, jetzt hör doch mal auf, ich kann’s nicht mehr hören!" Da ewig drauf rum zu kauen auf deinem wunden Finger. Und da sagt er: "Nee, nee. Es gibt Wunden, die heilen halt nicht."
Bruno S. 10 : Ick würde jeden Fremden, den ick sehe, der mich so dusslig ankiekt für ein Nazischwein halten. Jeden! Kann mir einer sagen, was er will. Ich traue den Menschen nur soweit, wie ein Schwein scheißen tut.
Kapielski: Zwei Jahre später kapituliert Nazideutschland. Bruno bleibt trotzdem weggesperrt. Am 13. Juli 45 bricht er – nicht zum ersten Mal - aus:
Sprecherin: Bruno entwich erneut nachmittags aus dem Heim, nachdem er erst zwei Tage zuvor zurückgebracht worden war. Er erbrach seinen Schrank, vertauschte seinen Lazarettkittel mit einem Privatanzug und entlief. Frl. S. und eine Helferin bemerkten ihn im letzten Augenblick, konnten ihn aber nicht mehr einholen. Sauber!
Kapielski: Er wird natürlich geschnappt. Nach dem Tod seiner Mutter 47 bricht er noch häufiger aus. Oft finden sie ihn dann an ihrem Grab wieder.
Musik 04: Bruno; Lied „Mamatschi“ wird angespielt und läuft im Hintergrund weiter
Bruno S. 11: Sie holten ihm, oder sie trugen ihm sein armes Mütterlein. Ich betone extra: armes Mütterlein! Und da fiel ihm seine Kindheit ein. Da sprach das Kind in dem Mannesalter zu diesem Einfall dieselben Worte, als dieses Fohlen, das jetzt an der Kutsche steht, gepresst: "Mamatschi, schenk' mir ein Pferdchen! Ein Pferdchen war mein Paradies. Mamatschi, kurze Pause, Trauerpferde wollt' ich nicht."
Kapielski: Ein Jahr später wurde er in die geschlossene Abteilung der Nervenklinik für Kinder überwiesen:
Sprecherin: Wegen unbeeinflussbarer Fluchttendenzen ist das Verbleiben des Jungen in der hiesigen Klinik nicht möglich. Wir bitten um vorübergehende Aufnahme in einem festen Haus. Diagnose: Psychopathie, Alter: 16, Gewicht: 39,5 Kilo, Größe:1 Meter 42
Kapielski: Psychopathie würde man heute als schwere Persönlichkeitsstörung beschreiben. Fünfzig bis achtzig Prozent aller Gefängnisinsassen leiden unter dieser antisozialen Störung, und zwar weil sie eingesperrt sind.
Sprecherin: Hier! Hör mal! 49 kommt er dann wirklich zu einer Pflegefamilie in den Grunewald.
Kapielski: Der Versuch, Bruno in eine bürgerliche Familie zu integrieren, scheitert aber nach einem Jahr und Bruno muss zurück in die Anstalt.
Sprecherin: Bei der Aufnahme erstmals ein Radio mit Kopfhörern registriert.
Kapielski: Sie werden ihm abgenommen.
Bruno 12 a,b: Nach dem Kriege bin ich getürmt von ´de Heime. Da war ich mal drei Jahre draußen. Und dann hammse mir mal wieder eingefangen und dann wieder rinn. Denn ein freier Mann warst du nie gewesen.
Kapielski: 55 ist Bruno nach Baden-Württemberg abgehauen. Er kommt in Offenburg und Ittenhausen zeitweise in Heimen unter. Von dort aus schlägt er sich nach Hamburg durch und arbeitet einige Monate auf einem Kohleplatz. Er kehrt nach Berlin zurück und meldet sich freiwillig in der Bonhoeffer Nervenklinik.
Sprecherin: Hast du gerade freiwillig gesagt?!
Kapielski: Hier ist das Aufnahmeprotokoll.
Sprecherin: Patient berichtet umständlich-treuherzig, er habe sein Entweichen wieder gut machen wollen und sei deshalb von Hamburg zurück gekommen. Habe lange gespart dafür, schließlich Ziehharmonika ins Leihhaus gebracht, um die letzten 4 Mark für das Fahrgeld zusammen zu bringen. Jedenfalls besitzt er jetzt: 1 Plätteisen, 1 Kugelschreiber, 1 Nagelpfeile, 1 Feldflasche, 3 Kleiderbügel und 1 Akkordeon.
Klaus Theuerkauf 07a,b: Nach dem Krieg hat ein Instrument gelernt. Über dieses Instrument hat er sich raus katapultiert aus der Isolation.
Atmo 01: Akkordeon-Atmen
Kapielski: Am 22. April 58 wird Bruno auf eigenen Wunsch entlassen. Da war er 26 und hatte die letzten 23 Jahre seines Lebens fast ununterbrochen in Anstalten und Heimen verbracht.
Bruno 13: (Signalhorn) Denn der Bruno, der geht jetzt in Freiheit.
Und wie sieht die Freiheit aus? Wie sieht die aus? Oh, Stacheldraht, oh, Stacheldraht. Ist es das? Wie sieht die Gerechtigkeit aus? Da sind Fragen, die schwer zu beantworten sind.
Atmo: aus
Kapielski: Bruno hat fünf Jahre lang Laufzettel für Kreuzberger Notunterkünfte, bis er 63 in seine erste eigene Wohnung in der Flottwellstraße 5 zieht. Er verdient sich Geld als Hilfsarbeiter.
Sprecherin: Da war doch vorhin so ein Brief … ach ja, hier!
Kapielski: Sehr geehrter Herr Abteilungsleiter des Isophonwerks 1. Ich bitte darum, dass ich nach den Feiertagen schnellstens meine Papiere kriege, da ich auf diese Arbeit keinen großen Wert lege. Mit diesem Lohn von 2 Mark 20, da wische ich mir den Arsch. Hochachtungsvoll Schleinstein, Bruno, Abt. Stanzerei Werk 2.
Sprecherin: Sowas wollte ich auch schon immer mal schreiben!
Kapielski: Bruno hat bestimmt noch mehrere davon verfasst, denn in den nächsten Jahren hat er viele Aushilfsjobs, bei denen ihm meistens nach kurzer Zeit gekündigt wird oder er selbst kündigt.
Eisholz 03 a,b: Er hat geraucht und hat gesoffen. Und geschrien. Wenn er betrunken war, hat er die Fenster aufgemacht, in die Hinterhöfe geschrien, dass die Nachbarn bei ihm vor der Tür standen. Ein ganz aggressiver Mann.
Kapielski, Sprecherin, Martin Wiebel 01, Matthias Reichelt 04: Kein Wunder, dass manch einer wütend wird, dem man die Kindheit geraubt hat.
Matthias Reichelt 05: Und er konnte ja sehr wütend werden. Sehr wütend.
Kapielski: ´68 wird er dann Gabelstaplerfahrer bei den Borsig-Werken und zwar für die nächsten 21 Jahre. UND jemand schenkte ihm ein Klavier!
Musik 05: „Leise tönt die Abendglocke“ wird angespielt, läuft im Hintergrund weiter
Bruno S. 14: Na, kommt schon ihr lieben Instrumente! Ick interessier´ mir für Musik und ich will ja auch zeigen, dass ich nachher was kann.
Musik 05 geht über in Musik 06: „Träumen von Berlin“
Matthias Reichelt 06: Du musst dir vorstellen, er hatte so einen kleinen Koffergepäckwagen, also auf zwei Rädern. Da war vertäut ein Stuhl, sein Akkordeon, sein Glockenspiel, manchmal noch ein Xylophon. Und das zog er hinter sich her und baute dann immer seine kleine Bühne auf und fing an zu spielen. Und dann gingen die Fenster auf, die Leute hörten zu, warfen Münzen runter, manchmal sogar einen Schein.
Kapielski: Die Idee des Moritatensingens kam Bruno, als er 66 in einer Zeitung eine Asbach Uralt Werbung entdeckte, in der an die Moritatensänger erinnert wird. Der Ausschnitt hängt hier immer noch an der Wand. Und direkt da drunter hat Bruno den ersten Artikel geklebt, der jemals über ihn verfasst wurde.
Sprecherin: Titel: Am Wochenende geht Bruno auf Moritatentrip. Moralische Gesänge auf Hinterhöfen – Schleinstein will alte Schnulzen wieder populär machen.
Kapielski: Darin sagt er, er hätte etwas „Wahrhaftiges“ in dieser Musik gefunden und das müsse er allen zeigen, etwas „durchgeben“.
Sprecherin: „Die Wahrheit mobil machen“, steht hier.
Kapielski: Diesen Zeitungsartikel hat Martin Wiebel geschrieben Bruno nannte ihn immer seinen Entdecker.
Martin Wiebel 02: Ich habe am Wedding eine kleine Studentenbude gefunden. Hinten gab es einen kleinen Hof mit einer Teppichklopfstange. Und auf diesem Hof höre ich plötzlich jemanden zum Akkordeon singen, gucke runter, gehe auch runter. Und da sitzt ein mir unbekannter Mensch mit einer ehemaligen Schulkarte, die er beklebt hatte mit eigenen Zeichnungen. Und zwar zu den Moritaten, die er vorsang. Er hatte keine Strümpfe an, hatte einen Hut auf, einen Trenchcoat an und er sang auf sehr ungewöhnliche Weise.
Bruno S. 15: Naaa, wann war das gewesen?
Martin Wiebel 03: 1967/68. Der damalige Sekretär der Abteilung Literatur, der hatte vor, ein Moritatenfestival zu organisieren. In der Akademie der Künste am Hanseatenweg. Und irgendwie beim Recherchieren, muss der über diesen Zeitungsartikel gestolpert sein. Jedenfalls kam es so zu einer Einladung für Bruno auf die Bühne der Akademie der Künste.
Kapielski: Ich hab die Platte von dem Festival hier!
Musik 07: (Atmo: Saalapplaus) Bruno „Zigeunerkind“ (Akademie der Künste 1968)
Martin Wiebel 04 a,b: Und eigentlich war er der einzige - man könnte sagen - authentische Moritatensänger. Anwesend jedenfalls, an diesem Abend, war ein Student, der DFFB - Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin.
Sprecherin: Und wer war das?
Kapielski: Das war wohl Lutz Eisholz.
Martin Wiebel 05: ja, Eisholz - genau.
Lutz Eisholz 04 a,b,c: Absoluter Unsinn. Ich habe zwar Bruno entdeckt, aber von der Veranstaltung wusste ich gar nichts. Eine Mitarbeiterin im Hause des damaligen SFB gab mir den Tipp, da gibt es einen Sänger, ein eigenartiger Mensch. Vielleicht wäre das ein Filmthema für Dich. Ich stand das erste Mal vor seiner Haustür, klingelte. Es gab nur einen Wortwechsel, er machte nicht auf. Beim zweiten Mal das Gleiche. Beim dritten Mal öffnete er die Tür. Wir verabredeten uns und ich kam zum vierten Mal zu ihm und er ließ mich in die Wohnung und begann dann 1969 "Bruno der Schwarze. Es blies ein Jäger wohl in sein Horn".

Kapielski: Die Sequenzen zum Film hat Eisholz in Brunos erster eigener Wohnung gedreht. Es gab keine Vorgaben, keine Verabredungen. Bruno erzählt ganz frei davon, was ihn beschäftigt.

Bruno S. 16: [teilweise mit Musik unterlegt] Warum soll ich überall verachtet werden? Nur weil ich in de Heime war und so weiter. Oder?! Huuaaaah! Was hab ich denn überhaupt noch von meinem Leben? Gar nichts mehr! Nich. Hab ich doch nichts mehr. Ich erwarte nur noch eins: Mir hat man verurteilt für die Einsamkeit. Das wird es sein.

Lutz Eisholz 05 a-e: Er war ja kein Schauspieler und in meinem Film schauspielert er ja nicht. Er ist ja gegenwärtig. Er wird durchsichtig gezeigt, wer und was er ist. Ich habe, als ich ihn kennenlernte, ein Produkt von einem Menschen vorgefunden, ein Produkt seiner Zeit, seiner Jugend und das fand ich erschütternd. Der Film wurde 1973 im Studiofilm am Montag im ersten Programm ausgestrahlt. Daraufhin meldete sich Werner Herzog in der ARD-Redaktion.

Werner Herzog Audiokommentar 01: Ich hatte gerade das Drehbuch fertig geschrieben.

Kapielski: Das Drehbuch für den Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“, bekannt als „Kaspar Hauser“.

Werner Herzog 02 a,b: Und dachte dann, um Himmels Willen, wer kann das denn spielen? Kann das ein Schauspieler überhaupt? Und ich sah durch Zufall einen Film von einem damaligen Filmstudenten in Berlin, Lutz Eisholz. Und da war ein Straßensänger in Berlin zu sehen. Bruno S. Und der hat mir so außergewöhnlich gefallen, dass ich gesagt habe, das ist er. Ich weiß es.

Lutz Eisholz 06: Wir trafen uns in Berlin, besuchten gemeinsam Bruno und ich hab quasi Bruno an Werner Herzog übergeben.

Werner Herzog 03 a,b: Und der hat das phänomenal gut gleich verstanden, um was es da ging. Und Bruno hat sich übrigens auch so stark identifiziert mit der Rolle, dass er nachts sein Kostüm auch nie auszog.

Kapielski: Der Film lief als deutscher Beitrag in Cannes.

Sprecherin: Bruno auf´m roten Teppich!
Kapielski: Ja, aber anstatt auf dem Roten Teppich rumzustehen, sitzt er mit seinem Akkordeon vorm Eingang eines kleinen Kinos in Cannes, wo Lutz Eisholz parallel seinen Film „Bruno der Schwarze“ zeigt, singt Schauerballaden, während Kaspar Hauser die „Goldene Palme“ gewinnt.
Martin Wiebel 06: Und [schnippt mit den Fingern] DAS war der Klick und plötzlich war Bruno ein Weltstar.
Musik 08: [Bruno S.: mit Akkordeon] Glück ist nur Schein – wie eine Eisfläche. Glück ist nur Schein, Zigeunerkind, aber wie eine Eisfläche. Darfst nie glücklich sein.
Werner Herzog 02: Bruno hat immer gesagt: Ich will kein Filmstar werden. Ich will das nicht. Ich bin Bruno. Ich will am Wochenende auf die Höfe gehen und singen.
Klaus Theuerkauf 09 a,b: Ich hab ihn dann auch mal gefragt über den Herzog und so, weil er immer gegreint hat. Am Anfang bin ich da drauf rein gefallen und irgendwann ging´s mir wahnsinnig auf den Wecker. "Der hat ja seinen Kinski jetzt und blablabla". Und da habe ich gesagt: "Ja Bruno, der hat doch extra jetzt den Stroszek gemacht, weil er Dich nicht als Woyzeck genommen hat." Und Stroszek ist ja ein Film, der gesessen hat.

Kapielski: Sehr geehrter Herr Herzog, hiermit möchte ich bestätigen, dass ich grundsätzlich bereit bin, bei Ihrem Projekt „Stroszek“ mitzuwirken. Aber: ich will eine anständige Gage. Wie wäre es, wenn ich auch an dem Umsatzeinkommen – ich möchte nicht zu hoch hinaus – sagen wir mal mit ein oder zwei Prozent beteiligt werde? Meine Nachbarn möchten gerne Statisten sein. Die Hausverwaltung Tiergarten Alt-Moabit bekommt 103 Freikarten. Sie sichern meine Wohnung und meine Arbeit. Es fällt doppelt so schwer, weil ich von niemandem hier in Berlin und woanders anerkannt werde. Denkt an das Lied „Ein Zigeuner verlässt seine Heimat“. Sind Sie einverstanden, dann den Vertrag! Aber in großen Buchstaben, so dass ich es lesen kann. Kleine Buchstaben fallen weg. Viele Grüße. Bruno. Berlin, den 25. August 1976.

Werner Herzog 03: Der größte Schauspieler, größte, tiefste von allen, ist Bruno S. Nicht Kinski oder Christian Bayle. Bruno! Der ist es! Ich habe nie mit jemand gearbeitet, der dieses Kaliber hatte. Und das wusste er auch.
Bruno 17: Ja, jetzt bin ich ja nun da. Also, ick staune drüber.

Sprecherin: Ich auch!

Kapielski: Na, sieh mal einer an! Auch „Stroszek“ wird ein Erfolg. Bruno kehrt zurück zur Arbeit in der Fabrik und spielt an den Wochenenden auf den Hinterhöfen.

Sprecherin: Und jetzt wird er erkannt als Kaspar Hauser, als Stroszek?

Kapielski: Ja! Von Klaus Theuerkauf zum Beispiel.

Klaus Theuerkauf 08: Ich habe Bruno angequatscht am Hansaplatz. Da lief er da und ich lief neben ihm her und sprach ihn an und er hat so ganz bärbeißig reagiert. Und dann habe ich gesagt: "Ja, ich bin völlig fasziniert von den Filmen und möchte mich doch mal bedanken, dass ich so etwas Tolles sehen durfte." Und da hat er gesagt: "Und würdeste mir auch zuhause besuchen?" Und da habe ich gesagt: "Ja, warum nicht."
Frank E. Marks 02 a-d: Wir haben diesen Film als sehr junge Leute gesehen, ja fast noch Kinder, mit 15 oder so. Jedenfalls war das damals schon ein ziemliches Ding, das zu sehen. Das hat einen schon ganz schön aus seiner ganzen, also mich aus meiner ganzen Spießigkeit gerissen. Das waren schon richtige Ereignisse, die einem den Schwamm, den man vorm Kopf hatte, weggenommen hat.

Richard Schütz 02: Er hat sich mit dem Kaspar Hauser identifiziert, menschlich, und dieser Kaspar Hauser und der Stroszek, der wurde zum Teil seiner Persönlichkeit.

Kapielski: Oder auch anders herum! Die Szenen werden in den Drehbüchern schon beschrieben, aber Dialogskripte gab es vorher nicht. Der Film wird übrigens in Brunos zweiter Wohnung gedreht. Eva Mattes schreibt in ihrer Autobiografie, dass sie Bruno immer Stichwörter geben musste. Was er dann sagte, hat er selbst formuliert.

Sprecherin: Und dann kam der nächste Film mit Herzog!
Kapielski: Danach kam
Martin Wiebel 07: Ein rabiater Absturz auch noch von einem sehr viel höheren Berg. Wer kommt schon vom Hinterhof nach Cannes.

Bruno S. 18: Was hatte er mal gesagt? [zitiert aus "Jeder für sich und Gott gegen alle"] Ich sehe einen Berg, auf den viele Menschen aufsteigen, wie bei einer Prozession. Und da oben ist der Tod. OFF Film-O-Ton: Da habe ich das Meer gesehen. Ich habe einen Berg gesehen und viele Menschen, die sind auf den Berg aufgestiegen wie in einer Prozession. Da war viel Nebel. Ich konnte es nicht ganz klar sehen. Und oben, da war der Tod.

Atmo 07: Akkordeon und Glockenspiel laufen rückwärts mit viel Delay. Wird eingeblendet, wird lauter, reißt ab.
Lutz Eisholz 07: Immer wenn ich zum Bruno kam, schimpfte er auf Werner Herzog und ich bin ganz sicher, als Werner Herzog kam, hat er auf Lutz Eisholz geschimpft.

Werner Herzog 04: Nein, es ist nie zu Versöhnung und nie zu einer Entfremdung gekommen. Verbrüderung, Versöhnung war nie notwendig gewesen.

Sprecherin: Ja, nee, ist klar!

Kapielski:[Notiz Bruno S.] „Weihnachten 1975 nenne ich Cannes, weil man mir in Cannes den Tod gezeigt hat. Der Tod tritt ein durch Kontaktarmut, durch die Mitmenschen. Eisholz ist Herzog sein Bluthund. Immer, immer muss der Bruno seine Haut zum Markte bringen, sonst haben die Wölfe in Menschengestalt keinen Fußabtreter.“

Bruno S. 19: Da kann man nur noch eins sagen: Dreimal V. VVV. Und jetzt betone ich: das erste V heißt vergangen, das zweite V heißt vergessen und das dritte V vorüber.


Kapielski: 81 nimmt Bruno noch einmal eine kleine Rolle in Klaus Tuschens „Frontstadt“ an. Es ist seine Abrechnung mit der Filmwelt, „der Hölle zum habgierigen Scheine“. Es wird dauern, bis er sich wieder vor die Kamera begibt. Jetzt konzentriert er sich auf seine Musik und auf die Malerei. Kurz vor Weihnachten erfüllt er sich einen Traum: er kauft sich für 12.000 Mark einen Steinwegflügel, den, an dem du gerade sitzt.

Sprecherin: Er hat viel Klassik gespielt: [sie nimmt ein paar Hefte in die Hand, blättert] Hier sind Noten von Mozart, Brahms, Beethoven, Shostakovich.

Richard Schütz 03: Bruno war ein unglaublich Musik liebender Mensch. Ich habe selten einen Menschen getroffen, der nicht wirklich professioneller Musiker war, aber in aller Leidenschaft seiner Seele Musiker.

Miron Zownir 02: Als Sänger war er meiner Meinung nach am stärksten, weil da seine Emotionen, sein ganzes Leid, seine ganze Vergangenheit und seine ganzen Wünsche und seine ganzen Träume irgendwie am stärksten komprimiert waren.
Bruno S. 20: Jetzt kommt der Chor der Patienten. (Klavier) Na! ... Na, wo bin ich denn?
Kapielski: Na in der Probe mit dem Oberkreuzberger Nasenflötenorchesters!
Musik 09: Bruno : „Ja! Moment!“ mit den Nasenflöten „Ich brauche euer Mitleid nicht“ Strophe 1 und 2
Kapielski: Tja, und da hab´ ich auch mit geflötet!
Sprecherin: Ja, logisch! Mein lieber Herr Kapielski! Erwachsene Männer spielen Nasenflöte im Orchester!
Kapielski: (…) [Kapielski erzählt von den Proben, gemeinsamen Erlebnissen o.ä.]
Sprecherin: Na, das erklärt ja so einiges!
Musik 10: Bruno mit den Nasenflöten „Ich brauche euer Mitleid nicht“ Strophe 3
Klaus Theuerkauf 10: Donnerstag, Freitag, Samstag war der meistens da. Und nachher war es nur noch samstags wegen der Nasenflötenorchesterprobe. Am Anfang fand er das ganz grauenvoll und nachher war er fester Bestandteil der Probe.
Bruno S. 21: Darf ich dir auch jetzt ´ne Frage stellen?
Klaus Theuerkauf 11: Immer, immer, bohrend. Was ist schwerer: Malerei, Musik, seine Kunstformen. Das sind ja Fragen, die man auch nicht beantworten kann. Für ihn war die Malerei das Schwierigste, glaube ich. Weil er manchmal richtig wütend und verzweifelt war, wenn er an Grenzen gestoßen ist.
Bruno S. 22: Tja, und da würde man fragen, welche Farbe könnte man die Wahrheit geben, wenn man ein Bild malt und da kommt irgendwie ne Wahrheit zum Vorschein. Könnte die Wahrheit auch ein Spiegel sein? Könnte die Wahrheit auch eine Blende sein? Die Wahrheit ist was, wo manch einer wird stutzig sein.
Klaus Theuerkauf 12: Meistens ist es Mord und Totschlag. Misstrauen von menschlichen Regungen, Enttäuschungen. Was hat er meistens drin? Ja, Moritaten. Also eigentlich fing das ja an, dass er seine Lieder illustriert hat. Nachher hat sich die Malerei verselbständigt. Dann hat er größere Formate gemacht und sich als Maler begriffen.
Bruno S. 23: (Klavier) Auch wenn ich die Bilder male. Ich steh´ ja auch manchmal nachts da und zeichne. Nicht nur am Tage, sondern auch nachts. Und nachts habe ich dann die besten Gedanken und dann male ick.
Kapielski: Seine erste Ausstellung hatte er 81 in einer Schöneberger Kneipe. Ein Jahr später stellt er bei endart in Kreuzberg aus. In den neunziger Jahren verkauft er die ersten Bilder. Ruhelos sucht er nach seinen Geschwistern, schreibt Einwohnermeldeämter an, sucht in Telefonverzeichnissen.
Klaus Theuerkauf 13: Und der Bruder, den hat er einmal getroffen. Der arbeitete irgendwie als Kellner. Und Bruno meinte: "Die haben sich geschämt." Jetzt muss man sagen, Bruno war natürlich immer so ein bisschen ungepflegt.
Richard Schütz 04: Er hat dann ganz bewusst diese Identität, diese Rolle des Penners, des Aussätzigen angenommen. Quasi als Selbstschutz. Ja, das ist mein Schutz, die lassen mich in Ruhe. Und die waren eben die normalen Bürger, die Kinder, die Erwachsenen, die ganz normalen Bürger, von denen er sowieso nie anerkannt wurde.
Klaus Theuerkauf 14: Er wollte so geliebt werden, wie er ist, ne. Er wurde ja immer gehänselt. Ich kenn hier Leute auf der Oranienstraße, die haben gesagt: "Warum gibst Du Dich denn mit dem Penner ab?" Da habe ich gesagt: "Das ist ein ganz feiner Mensch. Wollt ihr denn jetzt alle vom Aussehen her beurteilen? Na toll."
Sprecherin: So bin ich ihm wohl begegnet!
Klaus Theuerkauf 15: Mit Frauen hat er es ja nicht so gehabt, ne.
Elfriede sollte ein Bild geschickt werden, damit sie tot umfällt. Nach seinem Tode sollte man das schicken. Aber das war so gedacht, das die das Bild bekommen sollte mit so Raben und ´ner Urne und "Vergessen, Vorbei, Vorüber" stand drauf. Er hat immer phantasiert, dass die beiden Besuch bekommen hätten und er nicht.
Bruno 24: Gibt es Menschen, die vielleicht Angst haben, wenn sie dies oder jenes Bild sehen?
Sprecherin: Und? Hat seine Schwester das Bild bekommen?
Kapielski: Siehst Du dahinten das große Paket? Da ist das Bild drin, gerahmt, verpackt, adressiert. Als man es nach Brunos Tod zustellen wollte, kam heraus, dass sie vor ihm gestorben war.
Bruno 25: Ich habe schon manchmal, wenn ick ein Bild gemalt habe, einen Moralischen gekriegt. Da habe ich schon´n Moralischen gekriegt! Da habe ich schon´n Moralischen gekriegt! Ick denke, Mensch, so wie dett Menuett da von Händel geübt habe, watt auf Moll übergeht. Dur ist farbig und Moll, naja, da nahm der Schuster... dett geht dann ins mattierte über. Und dann nachher auf schwarz-weiß. Da nahm der Schuster sein Schuhmachermesser und schnitt ihr ab den Schlund.
Musik 11: Bruno „Sabine war ein Frauenzimmer“ wird hochgezogen und endet auf der letzten Strophe „da nahm der Schuster das Schuhmachermesser…“
Kapielski: Die Abwesenheit seiner Mutter, aber wohl noch mehr seine Erfahrungen mit den Erzieherinnen im faschistischen Deutschland machten für Bruno Vertrauensverhältnisse zu Frauen nahezu unmöglich. Erst im Alter entstanden zwischen Bruno und wenigen Frauen so etwas wie Freundschaften. Klaus Theuerkauf bringt ihn nach Köln zu Susanne Zander, eine Galeristin. Sie stellt ihn aus und bringt ihn auf Messen. Namenhafte Sammler wie Arnulf Rainer kauften Bilder für ihre Privatsammlungen. Er wird als Außenseiterkünstler bekannt, seine Bilder weltweit verkauft. Bruno war ein rastloser Arbeiter und Autodidakt. Viele sagen, sie hätten ihn selten sitzend gesehen.
Bruno AB1: (Nachricht 26, biep) Also, ich komm´ mit dem Computer nicht zu recht. Da wird ihm nur was hingeworfen zum Fraße. Watt ick haben will, das krieg ich nicht! Kann ick mir auf dich verlassen, oder bin ich verlassen?
Jan Ralske 02 a-d: Da war der Kaspar Hauser U-Bahn Station Kurfürstenstraße die Treppen hoch und ich bin einfach da hinterher rausgesprungen, auf die Straße ihn angesprochen. Und er guckte mich erst mal so sehr skeptisch an. Ich hatte nur gesagt, Entschuldigung, aber ich glaube, ich kenne Sie. Und er guckte mich an so, seine Antwort war, ja, weil man den Film gesehen hat.
Bruno AB2a,b: (Nachricht 25, Sonntag, 20 Uhr 28, Summen) Ich freue mich, wenn ich von dir was höre! Ich bin mit dem Ding nicht zufrieden. Ich schmeiß das bald gegen ´ne Wand. Gruß, Bruno.
Kapielski: Jan Ralske hat zwei Filme mit Bruno gemacht.
Jan Ralske 03 a-e: Diese Filme, das ist ein Teil der Freundschaft. "Seeing things", das ist entstanden aus der Tatsache, dass er mit 75 oder so entschieden hat, so ein Laptop auf dem Flohmarkt zu kaufen. Gleich wollte er loslegen mit 3-D-Programmen. Und wollte dann ganz bestimmte Sachen machen, was das zeichnen betrifft. Und dann fing ich an, das einfach nur zu dokumentieren, weil das war so seltsam, wie er sich da an den Computer ran tastete.
Richard Schütz 05: Ich meine Bruno hat wirklich bis zum letzten Atemzug gelernt.
Bruno AB3a,b: (Nachricht 36) Ich werde jetzt tüchtig üben, üben, üben! An diesem Computer. Ich glaube, es klappt sogar. Gruß, Bruno.
Kapielski: 25 Jahre nach Stroszek kann auch Miron Zownir Bruno für zwei Filmprojekte gewinnen.
Miron Zownir 03: Bruno ist in erster Linie ein Darsteller, der über seine Darstellung Zugang zur Schauspielerei gefunden hat.
Miron Zownir 04a: Es waren schon Rollen, mit denen er sich identifizieren konnte, aber auch Rollen, die von seiner Persönlichkeit vielleicht viel weiter weg waren. Und das war mir schon auch wichtig, ihn aus dieser Herzog-Zwangsjacke heraus zu ziehen.
Miron Zownir 04b: Es geht auch darum, dass Bruno sich weiterentwickelt hat. Ich meine, es gab einfach ein Leben nach Herzog und es gab ein Leben vor Herzog.
Miron Zownir 05: Viele, die an diesem Herzog-Mythos festkleben, die unterschätzen einfach Bruno - maßlos.
Atmo 01: Das Akkordeon atmet. Läuft im Hintergrund weiter
Atmo 08: Glocken
Kapielski, Sprecherin, Matthias Reichelt 07 und Martin Wiebel 08 sprechen versetzt: Der Winter kann auch im Hochsommer einbrechen. Und dieser Winter ist dann der Tod.
Kapielski: Rettungsdienst Einsatzbogen: 11. August 2010, Alarmzeit 10 Uhr 18, Kurfürstenstraße 38, OT Schöneberg. Bewusstsein: bewusstlos. Pupillen: ungleich. Atmung: keine. Puls: pulslos. Patient sitzend im Schreibtischstuhl am Flügel. Notfalleinsatzwagen abbestellt.
Atmo 09: die Kapellenorgel spielt „La Paloma“
Martin Wiebel 09a,b: Die Beerdigung selber fand ich wahnsinnig, wie plötzlich auf diesem Friedhof, ich weiß nicht, hundert Menschen waren, oder so.
Jan Ralske 04: Auf diesem kleinen Friedhof in Schöneberg da.
Martin Wiebel 10a-d: Ich hab nämlich immer gedacht, Bruno sei sehr einsam. Dass der so viele Sozialkontakte hat und Menschen die nebeneinander sich um ihn kümmerten, und dass er das auch alles zugelassen hat, das hat mich sehr überrascht.
Musik 12: Das Oberkreuzberger Nasenflötenorchester spielt am Grab. Shostakovich - Walzer Nr.3 (Violine und Nasenflöten)
Kapielski: Bruno hatte sein Testament schon 1985 geschrieben. Darin geht es einzig und allein um seine Instrumente: zehn Akkordeons, ein Bandoneon, ein Konzertflügel, ein Klavier, ein Celesta und eine englische Konzertina. Sie alle sollten in den Besitz des Berliner Musikinstrumentemuseums übergehen. Alles andere, unter anderem ein gut gefülltes Konto, soll der Rechtsanwalt und Notar Thomas Crasemann erhalten.
Sprecherin: Thomas Crasemann?
Matthias Reichelt 08: Ich weiß, es gab ganz viel Unruhe und viel böse Zungen auch. Keiner kannte Herrn Crasemann vorher. Und plötzlich war Herr Crasemann der Erbe des gesamten Brunoschen Werkes. Alles, was er besaß.
Kapielski: Nach Brunos Tod gehen Freunde und Förderer, die in Brunos Hinterlassenschaft viel mehr sehen als das Erbe eines alten, vergessenen Mannes, sondern den Nachlass des Künstlers Bruno S., auf den Notar zu. Sie wollen Brunos Erbe bewahren und katalogisieren. Crasemann hingegen hält sich vorerst an Brunos Testamentsauflage und lädt die Leiterin des Musikinstrumentenmuseums in Brunos Wohnung ein. Die konnte dort aber „kein Instrument von historischer Bedeutung“ entdecken. Schließlich hätte Bruno ja auch keins der Instrumente selbst erfunden, weshalb sie die Erbschaft nicht antreten könne.
Sprecherin: Da könnt´ ick affig werden!
Kapielski: Einen Vertreter der Deutschen Kinemathek, dem Filmmuseum Berlin, hat Crasemann auch eingeladen. Der konnte wiederum kein zentrales Objekt aus einem Film entdecken, obwohl er vermutete, dass da schon das ein oder andere Interessante zu finden sei. Er hat sich nicht weiter engagiert.
Sprecherin: Das sind doch beides durch Steuermittel finanzierte Einrichtungen! Die haben doch den Auftrag audiovisuelles Kulturerbe zu sichern!
Kapielski: Da hat sich wohl jemand schlau gemacht!
Sprecherin: Hab ich! Ich konnte auf eBay verfolgen, wie da die ein oder andere Glocke aus Brunos Besitz verkauft wurde und ich will gar nicht wissen, was noch!
Kapielski: Vieles wurde auf Flohmärkten angeboten oder ganz und gar entsorgt. Bildnerische und schriftliche Zeugnisse, Fotos und Dokumente hat Crasemann allerdings im Vorfeld aussortiert und der Galerie Susanne Zander in Köln angeboten. Die hat diesen Nachlass im Januar 2013 erworben und wird ihn archivieren.
Atmo 10: Gardinen werden aufgerissen, Fenster geöffnet
Sprecherin: Jetzt ist alles weg.
Kapielski: Die Wohnung hat der Alleinerbe Crasemann aufgelöst. Manche Dinge gingen an die Stadtklause, ein Lokal in dem Bruno viel Zeit mit Franz-Josef Göbel, dem Inhaber, verbrachte. Der hatte Bruno wenige Jahre vor seinem Tod zu einer Zusatzrente der Berliner Entschädigungsbehörde für die Zeit in den Nazi-Anstalten verholfen. Heute gibt es eine Art Gedenkraum in seinem Lokal.
Sprecherin: Ich war auf dem Schöneberger Friedhof und habe ewig nach Brunos Grab gesucht. Der hat bis jetzt nicht einmal einen Gedenkstein!
Kapielski: Eigentlich hatte er verfügt, seinen Körper der Wissenschaft zu übergeben. Man hat ihn aber zu spät gefunden. Brunos Instrumente sind größtenteils verloren. Aber
Jan Ralske 05a-e: Das ist das schöne bei jemandem wie Bruno, der lebt weiter in deinem Kopf. Wenn ich jetzt so mit ihm denke. Das ist eine besonders schöne Sache ihn gekannt zu haben. Ich vermisse ihn.
Frank 03: Dass wir das sehen durften, dass wir dabei sein durften, dass er uns da mitgenommen hat, das ist Freundschaft.
Miron Zownir 06a-f: Ich vermisse seine Stimme, ich vermisse seine Ehrlichkeit, ich vermisse seine Poesie, ich vermisse seine Streitlust.
Richard Schütz 06a,b: Er hatte ja seinen Kreis von Freunden, praktisch seine Wahlverwandtschaften. Wir waren eigentlich seine Ersatzfamilie und zu diesem wir haben eben schon als seiner frühesten und ältesten und längsten Freundschaften hat eben Klaus Theuerkauf gehört.
Klaus Theuerkauf: Ich weiß nicht. Bei mir liefen halt unheimlich viele Drähte zusammen. Und über mich hat er halt wieder unheimlich viele Leute kennen gelernt quasi. Und Bruno war je älter der wurde, desto größer wurde der Bekanntenkreis. So kam es mir vor.
Richard Schütz 07a,b: Ja, so wie glaub ich für ihn Wahlverwandtschaft war, so gehört er auch zu meiner Familie. Also, das Trauma von seiner Mutter verstoßen zu sein, das Trauma in den Heimen inhaftiert zu sein, das Trauma, das man ihn wie ein Tier behandelt hat in den Psychiatrien, dass er für verrückt und als Idiot eingestuft wurde und so behandelt wurde, dass hat er aufgearbeitet.
Sprecherin: Als ich Mensch wurde, musste ich sterben.
Kapielski: Bruno?!
Sprecherin: Ja.
Musik: Klavier „Forelle“


Bruno S.: Sie sollen glücklich werden. Werdet glücklich, aber nicht unglücklich! Werdet glücklich, aber nicht unglücklich!“



Kapielski Absage: Als ich Mensch wurde, musste ich sterben. …
Wir bedanken uns herzlich bei seinen Förderern und Freunden: Klaus Theuerkauf, Richard Schütz, Jan Ralske, Frieder Butzmann, Frank E. Marcks, Franz-Josef Göbel, Martin Wiebel, Lutz Eisholz, Lith Bahlmann, Thomas Crasemann, Ulla Biermann, Jürgen Borchers, Susanne Zander, Matthias Reichelt und dem Oberkreuzberger Nasenflötenorchester. „Ihr seid in Ordnung.“

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