Montag, 16. Dezember 2013
epd medien zu "Berufung ohne Beruf"
Bologna statt Humboldt
„Berufung ohne Beruf - Requiem auf einen Traum“,
Regie und Buch: Annett Krause, Matthias Hilke (SWR
2, 29.0212, 22.05-23.00 Uhr)
epd Lehrbeauftragte mit Doktortitel, die sich zu zwölft
ein Büro teilen. Privatdozenten, die für 153 Euro pro
Semester ein Seminar abhalten. Professoren, die ihre
Pflicht-Lehrveranstaltungen an unterbezahlte Honorarkräfte
delegieren. All das passiert nicht etwa in
Griechenland oder Spanien in Zeiten des Euro-Krisen-
Haushalts. Nein, das sind seit rund zehn Jahren die
alltäglichen Zustände an deutschen Hochschulen.
Wer Kinder, Partner, Freunde hat, die in diesen Zuständen
arbeiten oder studieren müssen, dem sind sie
wahrscheinlich nicht neu. Vielleicht auch denen nicht,
die regelmäßig die Bildungsbeilagen der Presse durcharbeiten
und sich von Begriffen wie „Bologna-Prozess“
oder „Wissenschaftszeitvertragsgesetz“ nicht abschrecken
lassen. Für alle anderen ist das Hörfunk-Feature
„Berufung ohne Beruf - Requiem auf einen Traum“ von
Annett Krause und Matthias Hilke eine echte Offenbarung:
In 55 Minuten vor dem Radio begreift man die
Ursachen, Folgen und Nebenwirkungen dieser Misere.
So anschaulich, als habe man nächtelang den Erzählungen
der Leidtragenden gelauscht. Und gleichzeitig
so analytisch, als habe man sich schon immer mit
deutscher Hochschulpolitik befasst.
Das gelingt vor allem deshalb, weil Krause und Hilke, bei
aller Faktenfülle und Personendichte, nie die Dramaturgie
aus den Augen verlieren. Sie strukturieren ihren Stoff
mit Hilfe der Sätze eines Requiems: „Kyrie - Warum wir
das machen“ oder „Lux aeterna - Zeit aufzuwachen“,
werden zu Überschriften der sieben Kapitel, in die sich
das Feature gliedert. Eröffnet wird jedes Kapitel mit
einem Zitat: Einmal Heidegger - „Wir gelangen in das,
was Denken heißt, indem wir selber denken“ - mehrfach
Adorno und einmal Horkheimer. Worte aus einer Zeit, als
dem Forschen und Lehren noch ein Wert beigemessen
wurde.
Vor diesem fernen „Hintergrundrauschen“ tritt die von
den Autoren ziemlich nüchtern präsentierte Misere der
universitären Gegenwart umso deutlicher zutage. „Im
Laufe der letzten zehn Jahre ist daher die Zahl der
Lehrbeauftragten bundesweit um 40 Prozent gestiegen.
Aktuell gibt es 77.000 an deutschen Hochschulen. Sie
alle haben Honorarvertrage“. Fünf von diesen 77.000
kommen in „Berufung ohne Beruf“ zu Wort, außerdem
eine Professorin mit Lehrstuhl und ein Ver.di-Vertreter.
Und nein, man weiß nicht immer, wer da gerade spricht.
Aber das ist nicht schlimm, weil man dafür immer
versteht, worum es geht. Nämlich um ein Problem, das
größer ist als die Summe seiner Teile. Die Doktorandin
mit Kind und ohne berufliche Perspektive hat darin eine
andere Rolle als der protestierende Aktivist oder der
Gewerkschafts-Vertreter. Die Privatdozentin, die trotz
höchster akademischer Qualifikationen noch nie einen
Lehrstuhl ergattern konnte, steht für einen anderen
Aspekt als die 40-jährige Philosophin, die es auf eine
unbefristete Professorenstelle geschafft hat.
Die Aussagen von ihnen allen, persönliche Erfahrungen
ebenso wie intellektuelle Analysen, sind entsprechend
den thematischen Kapiteln gruppiert und mit wenigen
ausgewählten Geräuschen ergänzt. Im ersten
Kapitel, in dem die Beteiligten mit ihren akademischen
Biografien vorgestellt werden, Stimmengewirr
aus einem Hörsaal. Später, wenn es um Motivation
geht, der Klang von umgeblätterten Buchseiten, trocken,
sachte, unaufhörlich wie Meeresrauschen - der
ewige Sound des Wissensdrangs. Hektische, orientierungslose
Schritte ergänzen die Beschreibungen des
perspektivlosen Lehrbeauftragten-Alltags, der Klang
eines menschlichen Herzens, Stethoskop-verstärkt, illustriert
die Ängste im Kapitel „Agnus Dei - Was die
Nächte finster macht“.
Diese Geräusche werden nicht nur als Orts- und Situationsbeschreibung
eingesetzt, sondern steigern sich
in ihrer Wiederholung zu einer rhythmischen Percussion.
Die trägt entscheidend dazu bei, den Zuhörer die
Dramatik der Situation spüren zu lassen. Hier werden
eben nicht nur arbeitende Menschen systematisch über
den Rand des Existenzminimums geschubst, so wie
es zunehmend auch Friseure, Krankenschwestern oder
Journalisten erleben. Hier wird, ein Ideal von freier
Forschung und Lehre zu Grabe getragen, das für dieses
Land einmal identitätsstiftend war. Oder, wie es
gegen Ende dieses Requiems heißt: „Die Politik riskiert
nicht nur ganze Generationen von Wissenschaftlern
zu verschrotten, sondern korrumpiert die Institution
Hochschule insgesamt. Haben wir Humboldt in Bologna
verloren?“ Sigrun Matthiesen

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